Gifttod vor dem Jugoslawien-Tribunal
Bosnisch-kroatischer Ex-General Praljak stirbt nach der Bestätigung des Urteils in Den Haag
Seine Strafe nahm der empörte Angeklagte keineswegs klaglos hin. »General Slobodan Praljak ist kein Kriegsverbrecher. Ich weise das Urteil zurück!«, rief der 72-jährige Ex-Kommandant der bosnisch-kroatischen Armee HVO erregt, nachdem die Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag am Mittwoch seine 20-jährige Haftstrafe aus erster Instanz bestätigt hatte. Praljak war seit 2004 in den Zellen des Tribunals im Nordseebad Scheveningen in Den Haag in Haft. Der 72-Jährige hatte sich dem Gericht selbst gestellt.
Mit zitternder Hand flößte sich Praljak nach der Urteilsverkündung aus einem bräunlichen Fläschlein eine Flüssigkeit ein. Er habe gerade »Gift« eingenommen, ließ er seine entgeisterten Richter wissen.
Zur letzten Urteilsverkündigung des zu Jahresende auslaufenden Mandats des UN-Tribunals hatten sich vor allem bosnische und kroatische Berichterstatter auf der Pressetribüne hinter den Panzerglasscheiben des Sitzungssaals 1 eingefunden.
Im Berufungsverfahren gegen die politische und militärische Führung des einstigen Parastaats Herceg-Bosna hatte der Gerichtshof auch über die Rolle Kroatiens im Bosnienkrieg (1992 bis 95) zu befinden: Das Urteil in erster Instanz, dass Kroatiens Staatsgründer Franjo Tudjman Teil einer kriminellen Vereinigung zur ethnischen Säuberung und Annexion der Herzegowina gewesen sei, wurde von der Berufungskammer zum Entsetzen Zagrebs weitgehend bestätigt. Doch der dramatische Auftritt des Generals sollte die in Bosnien und Kroatien mit Spannung erwartete Verkündung der Urteile über die sechs Angeklagten völlig überschatten - und zunächst jäh unterbrechen.
Hektisch ordnete der Vorsitzende Richter Carmel Argius die Schließung der Jalousien zur Besuchertribüne an. Herbei geeilte Rettungsärzte und ein über dem Tribunal rotierender Hubschrauber nährten die Spekulationen über dramatische Wiederbelebungsversuche. Erst nach knapp zwei Stunden schienen die Sirenen eines von der Polizei eskortierten Rettungswagens Entwarnung zu geben. Doch kurz nach der Einlieferung von Praljak in die Bronovo-Klinik in Den Haag wurde am Nachmittag der Tod des Verurteilten bekannt gegeben.
Die niederländischen Justizbehörden leiteten am Mittwoch Ermittlungen zu den Hintergründen des Selbstmords ein. Die Fragen, was für eine Substanz der Angeklagte geschluckt hatte und wie er daran gelangen konnte, drängten den Inhalt des letzten Urteils des Tribunals am Mittwoch zeitweise völlig in den Hintergrund, obwohl es bei den bosnischen Kroaten, aber auch in Zagreb heftige Reaktionen auslöste.
Nicht nur die in erster Instanz verhängten Haftstrafen gegen die sogenannten »kroatischen Sechs« von insgesamt 111 Jahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstößen gegen die Genfer Kriegsrechtkonvention wurden von dem Gericht allesamt bestätigt. Praljak gehörte dem Gericht zufolge mit den übrigen Angeklagten einer »kriminellen Vereinigung« an. Sie habe das Ziel gehabt, durch »ethnische Säuberung« einen rein kroatischen Staat zu errichten. Dieses Ziel sollte dem Gericht zufolge mit einer gezielten Terrorkampagne erreicht werden.
Die Berufungskammer folgte auch der Argumentation der Anklage, dass der Parastaat Herceg-Bosna und die HVO-Truppen bei den zwischen 1993 und 1994 begangenen Kriegsverbrechen und den Vertreibungen der muslimischen Zivilbevölkerung unter direkter Kontrolle der damaligen Führung in Zagreb standen.
Kroatiens Staatschefin Kolinda Grabar-Kitarovic, die sich im Vorfeld mit den nun als Kriegsverbrecher rechtskräftig verurteilten Angeklagten ausdrücklich solidarisiert hatte, brach ihren Staatsbesuch in Island ab.
Während Vertreter von Bosniens muslimischen Opferverbänden das Urteil begrüßten, fielen die Reaktionen von Vertretern der bosnischen Kroaten verbittert aus. Dragan Covic, der kroatische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium von Bosnien und Herzegowina, bezeichnete den Richterspruch als »Verbrechen an allen Vertretern der HVO«. »Slobodan Praljak hat sich geopfert, um zu zeigen, dass er unschuldig ist.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.