Abschalten statt nachrüsten

EU-Kohlekraftwerke werden neue Schadstoff-Grenzwerte laut Klimaexperten nicht einhalten

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht nur, weil sie jede Menge CO2 ausstoßen, geraten Kohlekraftwerke immer mehr unter Druck. Die großen Brennstoffmassen, die durch die Kessel gejagt werden, setzen auch mehr als 50 Schadstoffe frei, darunter Feinstaub, Quecksilber und Stickoxide. Allein die acht größten deutschen Braunkohlekraftwerke stoßen jährlich mehrere hundert Kilogramm Quecksilber aus.

Der Schadstoffausstoß der Kohlekraftwerke ist jedes Jahr in der EU für den vorzeitigen Tod von 23 000 Menschen verantwortlich, rechnete kürzlich das internationale Institut Climate Analytics vor. Andere Studien sprechen von der nicht minder erschreckenden Zahl von 18 000 Menschen, die jährlich an Luftverschmutzung durch Kohleförderung und Kraftwerke sterben.

Vor allem rüttelten die Experten von Climate Analytics die Branche mit der Einschätzung auf, dass 82 Prozent der EU-Kohleverbrennungsanlagen die ab 2021 geltenden neuen Schadstoff-Grenzwerte nicht einhalten werden. In Deutschland soll das rund 80 Prozent der Kohlekraftwerke betreffen und in Polen praktisch alle.

Im Juli dieses Jahres hatte die EU-Kommission neue Standards für große Verbrennungsanlagen in Kraft gesetzt, die den Stand der jeweils besten verfügbaren Technik (best available technique - BAT) definieren. Ab 2021 müssen kohlebefeuerte Kraftwerke in der EU diese Standards einhalten. Rechtliche Grundlage ist die seit 2010 geltende EU-Richtlinie über Industrieemissionen (IED).

Die Kosten, um die Anlagen auf Vordermann zu bringen, veranschlagt Climate Analytics für die EU auf 8 bis 14,5 Milliarden Euro, darunter 2,4 bis 4,3 Milliarden für Polen und 700 Millionen bis 1,2 Milliarden Euro für Deutschland. Angesichts derart horrender Kosten plädieren die Experten für eine eher radikale Lösung - die Stilllegung großer Teile der Kohleverstromung bis 2030. Bereits neun EU-Staaten, die zusammen über etwa ein Viertel der EU-Kohlekapazitäten verfügen, haben den Forschern zufolge einen Kohleausstieg bis 2030 angekündigt: Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal und Schweden. »Der Pariser Klimavertrag und die Vorschriften zur Luftreinhaltung können praktisch zusammen erfüllt werden«, betont Climate-Analytics-Chef Bill Hare. Nicht alte Kohlekraftwerke mit Filtern nachzurüsten ist für ihn die nachhaltige Lösung, sondern nur die Abschaltung. Zugleich müsse in erneuerbare Energien und ein dazu passendes flexibles Stromsystem investiert werden.

Gegen die neuen Standards waren deutsche Kraftwerksbetreiber schon im Sommer Sturm gelaufen. So bemängelte die Lausitzer LEAG, dass die angestrebten Emissionen für Stickoxid und Quecksilber fachlich falsch abgeleitet seien und nicht dem Stand der besten verfügbaren Technik entsprächen. Die Braunkohleländer Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt verlangten, die Bundesregierung müsse gegen die Umweltauflagen klagen.

Allerdings ließ das zuständige Bundesumweltministerium Mitte November - während des Bonner Klimagipfels - die Einspruchsfrist gegen die neuen EU-Auflagen verstreichen. Ob es die Zahlen von Climate Analytics für belastbar hält oder nicht - dazu äußerte sich das Ministerium auf Nachfrage nicht. Nur die Betreiber der Kraftwerke selbst, ließ das Ministerium wissen, könnten die notwendigen betrieblichen oder technischen Maßnahmen zur Einhaltung der künftigen Emissionswerte abschätzen.

Die Betreiber haben aber die Möglichkeit einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung nach der IED-Richtlinie stellen, so das Umweltministerium. Die Behörden können demnach in »hinreichend begründeten Fällen« im Einzelfall von den EU-Anforderungen abweichen.

Das Land Brandenburg will nach der verstrichenen Einspruchsfrist die Sache vorerst auf sich beruhen lassen. Der Ball liege beim Bund, teilte das Potsdamer Wirtschaftsministerium auf Nachfrage mit. Offenbar setzt man auch hier auf Ausnahmegenehmigungen, sollte der Weiterbetrieb der Kraftwerke wegen der EU-Richtlinie gefährdet sein.

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