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Sparen auf dem Rücken der Freiwilligen
Hunderttausende Ehrenamtliche halten viele Gesellschaftsbereiche am Laufen, für die der Staat zuständig wäre
An warmen Worten bis hin zu wahren Lobeshymnen fehlt es kaum, wenn vom Ehrenamt die Rede ist. »Danke für die vielen Stunden freiwilliger und ehrenamtlicher Arbeit, die Sie unserem Land und unserem Gemeinwesen schenken. Sie alle sind das Rückgrat unserer Gesellschaft und an ganz vielen Orten sind Sie die wirklichen Helden unseres Alltags.« So begrüßte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rund 4000 eingeladene ehrenamtlich Tätige bei einem Sommerfest in seinem Amtssitz im Schloss Bellevue am 8. September.
Steinmeier zählte auch einige Bereiche auf, die ohne Ehrenamt nicht oder nur noch eingeschränkt funktionieren würden: Freiwillige Feuerwehr, Rotes Kreuz, Sportvereine, Flüchtlingsunterkünfte, Hausaufgabenhilfe, psychosoziale Betreuung von Alten und Kranken. »Sie halten diese Gesellschaft zusammen. Sie schaffen Heimat, eine Gemeinschaft, ein Zuhause. Ihnen allen gebührt unser Dank für Ihre Ausdauer, für Ihre Kreativität, für Ihre Umsicht und Verlässlichkeit, für Ihr Herzblut und Ihr Einfühlungsvermögen, für all Ihre Talente und Fähigkeiten, die Sie in Ihre freiwilligen Aufgaben einbringen.«
In der Tat haben Steinmeier und andere Repräsentanten der politischen Klasse allen Grund, das Ehrenamt zu loben und zu preisen. Denn was sich historisch als karitatives Engagement bürgerlicher und proletarischer Vereine entwickelt hat und zum identitätsstiftenden Kern der großen Kirchen gehört, ist für den Staat längst zu einem äußerst lukrativen Geschäftsmodell geworden. Es ermöglichst dem Bund, den Ländern und den Kommunen, Teilbereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge aus der eigenen Verantwortung auszugliedern und vor allem Personalausgaben einzusparen.
Dafür nur einige Beispiele: Längst ist es in vielen Jobcentern Usus, Bezieher von Hartz-IV-Leistungen oder Altersgrundsicherung auf karitative Suppenküchen oder die fast 1000 Ausgabestellen der ehrenamtlich betriebenen »Tafeln« zu verweisen, wenn das Geld nicht für den Lebensunterhalt reicht. Und als Bundeskanzlerin Angela Merkel mit breiter Unterstützung aller Parteien (außer der seinerzeit noch relativ schwachen AfD) am 15. August 2015 mit dem legendären Satz »Wir schaffen das« die Willkommenskultur für Hunderttausende Flüchtlinge quasi zur Staatsräson erklärte, wurde sehr schnell deutlich, dass diese Herkulesaufgabe in erster Linie nicht durch eigentlich notwendige schnelle Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe, sondern durch ehrenamtliches Engagement bewältigt werden sollte. Dass der Umgang mit traumatisierten, verzweifelten Menschen aus anderen Kulturen und Lebenswelten ein hohes Maß an Professionalität und entsprechende personelle Ressourcen erfordert, wurde lange Zeit verdrängt. Mit der Folge, dass viele hoch motivierte freiwillige Helfer ohne ausreichende Anleitung regelrecht verheizt wurden und schwere psychische Krisen durchlebten.
Natürlich ist ehrenamtliche Tätigkeit ein unverzichtbarer Bestandteil der gesellschaftlichen Organisation. Etwa 30 Millionen Menschen engagieren sich in Sport- und Kulturvereinen, Hilfsorganisationen, Nachbarschaftsgruppen, in der Kommunalpolitik, in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Elternvertretungen oder im Naturschutz. Für einige Bereiche gibt es dafür einen offiziellen staatlichen Rahmen, wie beim Freiwilligen Sozialen Jahr, beim Freiwilligen Ökologischen Jahr oder dem Bundesfreiwilligendienst. Spätestens hier wird deutlich, dass sich eine riesige Grauzone zwischen ehrenamtlichem Engagement und der Schaffung eines großen informellen Arbeitsmarktes entwickelt hat, auf dem reguläre Beschäftigung durch »Freiwillige« ersetzt wird. In diesem Bereich mischt sich das mit dem Einsatz von Ein-Euro-Jobbern, also Beziehern von Hartz-IV-Leistungen, die unter Androhung materieller Sanktionen zur Ausübung entsprechender Tätigkeiten genötigt werden können.
Nutznießer dieser Perversionen des Ehrenamtes sind sowohl kommunale Aufgabenträger als auch große Verbände, die entsprechende Dienste gerne in Anspruch nehmen. Unterstützt werden sie von offiziellen »Freiwilligenagenturen«, die für eine möglichst schnelle Vermittlung der heiß begehrten Billigkräfte sorgen sollen.
Beim Paritätischen Gesamtverband, dessen Mitgliedsverbände zu den größten Nutzern freiwilliger und ehrenamtlicher Arbeit gehören, mochte man sich trotz mehrerer Anfragen und einer ursprünglichen Zusage nicht zu der Frage der Ersetzung regulärer durch informelle und prekäre Arbeit äußern. Eine Sprecherin verwies lediglich darauf, dass sich die Wohlfahrtsverbände intensiv um die Betreuung und Fortbildung der Hilfskräfte kümmern würden.
Klare Worte gab es dagegen von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Zwar sei ehrenamtliches Engagement »grundsätzlich zu begrüßen, weil es den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert«, so eine ver.di-Sprecherin auf Nachfrage. Problematisch werde es aber, »wenn es Lücken füllen soll, die entstehen, wenn der Staat sich aus der öffentlichen Daseinsfürsorge zurückzieht«. Als Beispiel nannte die Sprecherin das Gesundheitswesen, aber auch den Verkehr in dünn besiedelten Gebieten, wo zunehmend so genannte Bürgerbusse zum Einsatz kämen, weil die Strecken nicht mehr von den Kommunen bedient werden und für private Anbieter nicht lukrativ genug sind. Auch in der frühkindlichen oder schulischen Bildung würden »zunehmend Ehrenamtliche herangezogen, etwa aus Vereinen, die - anstatt qualifizierter Pädagogen - Teile vor allem der Nachmittagsbetreuung übernehmen«.
Noch zugespitzter sei die Lage im Bereich der häusliche Pflege, »wo Vereine, die teilweise ehrenamtlich Betreuungs- und Pflegeleistungen übernehmen, mit professionellen Pflegediensten in Konkurrenz treten, weil sie wesentlich günstigere Preise anbieten«. Ehrenamtliches Engagement dürfe nur »Ergänzung zu professioneller und öffentlich finanzierter Betreuung sein, beispielsweise durch Nachbarschaftscafés und Besuchsdienste, um die soziokulturelle Teilhabe pflegebedürftiger Menschen zu fördern«. Aber eben nicht als Vehikel für Sparmaßnahmen in der staatlichen Daseinsvorsorge.
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