Wühlen im visuellen Gedächtnis der USA
Eine Ausstellung in Baden-Baden widmet sich der Sicht amerikanischer Gegenwartskünstler auf der Verhältnis von Wahrheit und Lüge
Große Gesten und theatralische Mimik prägen die Amtsführung vieler Staatsoberhäupter weltweit. In den USA ist dies nicht erst seit Antritt des derzeitigen Präsidenten Donald Trump so. Auch »Fake News« und »Alternative Fakten« spielten schon in Zeiten des Kalten Krieges eine zentrale Rolle im Kampf um die Medien und die Meinung der Öffentlichkeit. Gegen Ende des Vietnamkrieges und zu Beginn der US-amerikanischen Watergate-Affäre kreiert im Jahr 1972 der Surrealist William N. Copley deshalb seine »Imaginäre Flagge für die USA«. »Think« ist darauf zu lesen - und zwar exakt an der Stelle, wo sich normalerweise die Sterne aller 50 Bundesstaaten befinden.
Copley‘s Werk ist nun das Leitmotiv der aktuellen Ausstellung »America! America! How real is real?« im Burda-Museum in Baden-Baden, die auf vier Stockwerken rund 70 Meisterwerke US-amerikanischer Kunst der vergangenen 50 Jahre zeigt. Die Schau taucht ein in das visuelle Gedächtnis der westlichen Weltmacht und reflektiert Symbole und Bilder des amerikanischen Traums und des »Way of live«. Dabei zeigt die von Helmut Friedel kuratierte Ausstellung, wie Künstler den Wandel der Gesellschaft, ihren Umgang mit Bild und Abbild, Realität und Täuschung mit immer wieder neuen Mitteln, Techniken und Strategien kommentieren.
Rassenunruhen, Katastrophen, Verbrechen, der elektrische Stuhl: Ausgehend von vorgefundenem Fotomaterial entwickelte Andy Warhol seine teilweise krassen Darstellungen, die als Zeugnisse von Gewalt in den damaligen US-Massenmedien veröffentlicht wurden. Warhol wählte seine Motive stets aus einer Flut von Fotografien, er bestimmte Größe und Ausschnitt und machte durch diese Pointierung aus einer Zeitungssensation ein Bild, das sich daraufhin weltweit in den Köpfen einprägte.
Nicht nur Andy Warhol sorgte mit seinen Bildern seit den 1960er Jahren in der US-Malerei für Furore. Unterdrückte Ängste und Aggressionen spiegeln sich auch Jahrzehnte später etwa in Robert Longo’s riesigen Zeichnungen wider, die von Atombomben, Revolvern und dem Flugzeuganschlag auf die New Yorker Twin Towers im Jahr 2001 erzählen. Wie Warhol und Longo übernahmen auch Künstler wie Roy Lichtenstein oder James Rosenquist Methoden der kommerziellen Bildproduktion und verabschiedeten sich von traditionellen Vorstellungen von Authentizität und Originalität.
Von der Pop-Art bis heute thematisieren die Künstler den Umgang mit Bild und Abbild, Realität und Täuschung immer wieder neu. Die Werke von Warhol, Lichtenstein, Rosenquist und Tom Wesselmann bilden den Rundgang-Auftakt im Erdgeschoss des Museums - ein Rundgang in eine von Bildern der Konsumkultur inspirierten Malerei. Die Ausstellung dokumentiert, dass sich US-amerikanische Künstler schon seit Jahrzehnten mit dieser Frage auf ihre Art auseinandersetzen - und nicht erst, seit die aktuelle Regierung Begriffe wie »Fake News« und »Alternative Facts« erfunden hat. Ob Warhol, Lichtenstein, Alex Katz, Jeff Koons, Cindy Sherman oder Jenny Holzer - sie alle suchten immer wieder mit neuen Mitteln und Techniken aktuelle Phänomene zu kommentieren.
Es sind teilweise emotional aufgeladene Bilder wie etwa die Familien- und Gruppenporträts von Alex Katz. Sie lesen sich wie feinsinnige Psychogramme einer zutiefst verunsicherten Mittelschicht. Bei Eric Fischl’s Gemälden gleicht das bürgerliche Wohnzimmer einem Schlachtfeld, während Jeff Wall auf seiner Fotoinszenierung »Untertangling« aus dem Jahr 1994 einen Arbeiter zeigt, der einen gordischen Knoten zu entwirren versucht. Abgründige Bildwelten wiederum sind von Video- und Fotokünstlern seit den 1980er Jahren zu sehen, wo man auf den ersten Blick nicht genau weiß, was Wirklichkeit und was Inszenierung ist. Etwa, wenn die Künstlerin Sherman als Marilyn Monroe posiert und Madonna als pornographisches Monster zeigt.
Die amerikanische Kunst hat seit der Pop-Art verschiedene Erzählstrukturen entwickelt. Meist geht es um eine radikale Hinwendung zu Themen des amerikanischen Alltags, seinen Mythen, Desastern und Projektionen. So auch bei Nan Goldin, die zwei an Aids erkrankte und wenig später gestorbene Freunde im Krankenhaus schonungslos porträtiert und so eine Realität auf neue Weise zeigt.
»Kaum eine andere Nation setzt die Wirkungskraft von Bildern so bewusst ein«, sagt Kurator Friedel. Die Bilder des »American Way of Life«, die in den Medien und der Unterhaltungsindustrie produziert werden, könnten bestehende Machtverhältnisse und Vorstellungen von Wirklichkeit zementieren, betont Friedel - aber auch radikal in Frage stellen. »Die Schau soll einen Gedankenaustausch zu aktuellen Themen wie dem Umgang mit der Wahrheit thematisieren«, sagt der Direktor des Museums Frieder Burda, Henning Schaper.
Kurator Helmut Friedel betont: »Wenn ›Fake News‹ und ›Alternative Facts‹ inzwischen zu viel gebrauchten Schlagwörtern geworden sind, macht dies nur deutlich, wie in der realen Welt der Politik wie der Medien nicht mehr zwischen nachgewiesener Wirklichkeit und eindeutigen Falschaussagen unterschieden wird.«
Die Ausstellung »America! America! How real is real?« ist im Burda-Museum Baden-Baden, Lichtentaler Alle 8b bis 21. Mai zu sehen. Geöffnet Di bis So sowie Feiertags 10 bis 18 Uhr.
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