Es ist schrecklich. Es ist wahr

aufBruch-Regisseur Adrian Figueroa: »Stress« im HAU und Filmpremiere »Anderswo«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Dem Russen einen Kasten für Mineralwasserflaschen übern Schädel gezogen, zum Beispiel. Oder sechsmal zugestochen. Oder mit dem Ziegelstein losgedroschen, nochmal, nochmal. Die Ausgangslage ist klar: Die Vier da vorn sind Straftäter. Spielen Straftäter, tanzen sie, erzählen deren Schicksal. Menschen mit brennenden Blicken, angespannten Körpern. Dieser Theaterabend offenbart eine forsche, fauchende, federnde Ästhetik des Gegenangriffs - dessen Energien sich am Druck und am Dröhnen in den jeweiligen Biografien entzünden. So fühlsam wie fiebernd.

Adrian Figueroa, Regisseur und Videokünstler, hat aus langen Gesprächen mit Inhaftierten der Jugendstrafanstalt Tegel, gemeinsam mit dem Dramaturgen Tuncay Kulaoglu, das Stück »Stress« geformt (Choreographie: Kadir Memis, Bühne: Irina Schicketanz, Musik: Ketan Bhatti, Kostüme: Malena Modeer). Uraufführungszyklus war am vergangenen Wochenende im HAU 3 am Tempelhofer Ufer.

Die Bühne besteht aus zwei zellenartigen Guckkästen, vorn offen; jede der Raumskizzen ist weiß ausgeschlagen, hat etwas von einer septischen, abstrakten Anordnung. Auch die helle Kleidung der Spieler etabliert einen Lebenszustand zwischen Haft, Sportstunde und Klinik. Figueroa ist kein Regisseur der realistischen Nachzeichnung, er schafft Kunsträume, assoziative Szenen, in denen wechselnde Lichtflächen mit Tanz und Erstarrung in Verbund treten. Die Körper zunächst wie festgezurrt, motorisch nahezu stillgelegte Wesen - eine winzige Kopfbewegung ist schon ein Vulkan, ein hervorschnellender Zeigefinger reißt ein Loch in die Welt, Klimmzüge sind Entlastung wie Drohung. Wir sind hier in keinem Alltag.

Sprache hetzt, sinniert, hackt, stößt von Mund zu Mund. Monolog, Dialog. Abbruch, Hören, Neuansatz, Frage, Antwort, keine Antwort, noch mehr Fragen. Herkunftsfetzen, Tatmomente, Verhörsituationen werden variiert, wiederholt - so formt sich über achtzig Minuten ein Tanz- und Texttheater, bei dem auch Worte, Widerworte eine eigene Choreografie aus Verzweiflung und Verlangen bilden. »Es ist schrecklich« sagt der eine, »es ist wahr«, sagt ein anderer. Zwei Sätze gegeneinander geknallt, als umarmten sie sich. Alles wagen, alles zerstören - um bloß kein »Opfer« zu sein? Sieh deinem Absturz ins Gesicht. Ein Schrei geradezu: Da könne doch was nicht stimmen am System, »dass wir in einer Zweizimmerwohnung hausen mussten, meine Mutter Leben rettet, aber ein Drogendealer in Eberswalde ein großes Haus hat.«

Viele Sätze klingen, als würden sie in großer Höhe gesagt, dann herabfallen - ein Abgrund findet sich immer - und dabei einen lang währenden Hall erzeugen. »Ich brauch ein Wunder, das mich rettet ... Ich bin nicht, was ich bin, sondern das, was ich tue ... « Einer brüllt, flüstert, predigt, höhnt in wechselnder Tonart direkt ins Publikum: »Du hast Potenzial! Und du! Und du auch!« Eine stereotype Aufputschvokabel für die gesellschaftliche Grundhärte, herausgewütet als traurig-aggressive Wiederholungsschleife. Es ist vieles so schrecklich, deshalb ist es so wahr.

Der gedrungen-kräftige Paul Wollin, der virtuos tanzende Lukas Steltner, der versonnene, wie fremd im Eigenen stutzende Hasan Tasgin, der so gemütsoffene wie elegische dunkelhäutige Nyamandi Adrian - es sind berührende Berliner Schauspieler, die in und zwischen den beiden Zellenräumen sowie auf einem quadratischen Spielpodest im Vordergrund ein spannungsheftiges Terrain bauen. Das Spiel bittet um Verständnis, tastet nach Trost, aber Figueroa unterschlägt die Gewalt nicht, die über diesen Lebensläufen liegt, sie womöglich dauerhaft vergiftete.

Immer wieder zucken Video-Schattenstreifen über die Szene: der Mensch von abstrakten Mustern, geometrischen Zeichen zerschnitten; das erreicht mitunter eine kühle Entrücktheit, in die aber plötzlich gewaltige Entladung hineinschlägt: Die Zellen öffnen sich nach hinten - im Stroboskop-Überfall, in Nebelwallen und Musikbeben tobt eine orgiastische Ausbruchslust, die alles will, nur keinen Sättigungsgrad. Danach eine Stille, in der jeder Atemzug die Erschöpfung als einen wahren Sieg singt.

Figueroa, Jahrgang 1984, arbeitet als Videokünstler regelmäßig mit dem Theatermacher Nuran David Calis zusammen (»Glaubenskämpfer« in Köln, »Gold« bei den Nibelungenfestspielen Worms), er drehte den Dokfilm »Die Lücke« über den NSU-Nagelbombenanschlag in Köln. Auch »Stress« belegt den expressiven Sinn des Regisseurs, zeigt seine Lust, das unmittelbar Wirkliche aus einer Ferne zu betrachten, die gleichsam Science Fiction mit Archaik koppelt. Knast raus, Kubrick rein.

Seit Jahren inszeniert, filmt er für das Gefängnistheater aufBruch, eine Kooperation auch bei der jetzigen HAU-Uraufführung. Und ein halbstündiger Film entstand, der kürzlich ebenfalls, in der Alten Kantine Wedding, seine Berliner Premiere erlebte und bereits auf dem legendären Filmfestival in Hof lief.

»Anderswo« porträtiert acht Häftlinge aus Tegel, stellt sie in deren selbst gewählte Traum-Kulissen, in denen sich das Wissen um tragische, böse Erfahrungen wegsprengt ins Illusorische: Da ist der pelzbehangene rote Umhang eines Königs, die Kluft eines Astronauten, das bonbonfarbene türkische Panorama für Liebesgesänge, die Meditationsruhe eines buddhistischen Klosters. Schöne, geschönte Selbstbilder, mit denen jene Verlustmeldungen übermalt werden, die das Dasein angesammelt hat. Und immer wieder das bohrende Nachdenken: über Reuegefühle, die sich verschleißen; über diese Not, in der Gesellschaft ständig eine Rolle spielen zu müssen; über das Gewissen und dessen Schwäche, wenn es ums gewisse Etwas aus Rausch und Reichtum geht.

Der Film - vorgesehen für weitere Festivals - bekräftigt Glück und Elend unseres Bewusstseins: nicht zur Ruhe kommen zu können. Immer anderswo sein zu wollen. Ein Glück, das in kleinster Zelle grenzenlos träumt - ein Elend freilich auch, das Grenzen missachtet und so in Zellen enden kann. Die Bilder aus den Zellengängen wirken stellenweise wie der Maschinenraum eines Totenschiffes.

Das Theaterstück und der Film, die Insassen eines Gefängnisses und gleichermaßen wir hier draußen: Ist das Sehnen nach dem »Anderswo« bereits die Erlösung vom »Stress«? Oder ist der Drang, anderswo zu leben (nicht einfach nur woanders zu sein), ein Quell für Stress? Figueroas Theater wie der Film erzählen vom Willen seiner Protagonisten, sich abzustoßen. Es ist ihnen dringend nach Bewegung zumute. Sie müssen sich in etwas hineinstürzen, um sich von irgendwo, wo es nicht auszuhalten ist, irgendwohin zu drängen, wo es auszuhalten wäre. Es gibt Grundwörter für die angestrebte Richtung, intensiver zu leben: vom Dämmern ins Feuer, von Verlorenheit zu Spürbarkeit, von Lähmung zu Aufbruch, von Leere zu Liebe. Als weit gefühlt darf nur gelten, was weit greift. Aber leider ist dieses »weit gefühlt« so verflucht und so gefährlich nah am: weit gefehlt. Lediglich eine Knasterfahrung?

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