Von bösen Schwingungen
Manches, was man als bösartig wahrnimmt, ist in Wahrheit ein Stresssymptom
Ende der Fünfziger Jahre veröffentlichte Carl Gustav Jung ein Buch mit dem Titel »Ein moderner Mythos. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden«. Er untersuchte darin die Frage, warum die US-Amerikaner mit so großer Leidenschaft unbekannte Flugobjekte verfolgten, Besuche Außerirdischer konstruierten, »fliegende Untertassen« über die nächtliche Prärie sausen lassen, damit sie sich in Hollywood materialisieren. Inneres wird nach außen verlegt, Urbilder von Erlösung, von Bedrohung werden projiziert - beides liegt im Unbewussten nah beieinander.
Jung war damals schon sehr alt und der letzte Überlebende einer Gründergeneration von Tiefenpsychologen. Er war mit Sigmund Freud eng befreundet und herzlich verfeindet gewesen, hatte eine bis heute intensiv rezipierte Typenlehre erfunden (die Begriffe »introvertiert« und »extravertiert« stammen von ihm) und sich in die Tagespolitik eingemischt, nicht immer mit erfreulichen Resultaten. So verglich er Hitler mit dem Sturmgott Wotan und wollte in der nationalsozialistischen Bewegung Bundesgenossen gegen die »jüdische« Psychologie Freuds finden.
Wer sich mit modernen Mythen beschäftigt, verschafft dem etwas abschätzigen Begriff von der »Verschwörungstheorie« (besser: Verschwörungsmodell!) ein Stück religionswissenschaftlicher Würde. Mythen sind den Märchen verwandt, aber anders als diese nennen sie oft konkrete Orte und begründen Aktionen, etwa Rituale, die ihre soziale Wahrheit bekräftigen. Wer den mythischen Aspekt von »Fake News« als Erkenntnismöglichkeit zulässt, gewinnt auch einen Ansatz zu verstehen, warum solche Botschaften Menschen erreichen und intensiv bewegen. Der aktuelle Mythos betrifft nicht fliegende Untertassen, sondern unhörbare »Schallangriffe«. Im August 2017 zog das State Department 16 Botschaftsangehörige aus Kuba ab, die unter verschiedenen nervösen Symptomen (unter anderem Ohrgeräuschen, Schlaflosigkeit und Erschöpfung) litten und das damit erklärten, sie seien Opfer eines Angriffs mit Schallwellen geworden. Es blieb unklar, woher dieser Angriff kam - und ob es ihn überhaupt gegeben hat. Die Kubaner versprachen, mit allen Kräften bei der Aufklärung zu helfen, ohne Ergebnis auf allen denkbaren Seiten.
Natürlich können Schallwellen Menschen quälen, verletzen, ja töten. Mit »Schallkanonen« vertreiben Handelsschiffe Piraten und amerikanische Polizisten Demonstranten. Aber nach allem bisher gesammelten Wissen über die menschliche Physiologie kann Schall nur den schädigen, der ihn auch hört. Wer sich in geschlossenen Räumen aufhält, kann nicht zum Opfer einer unhörbaren Schallattacke von außen werden.
Darf jetzt die Mythologie auf die Bühne treten? Von Fidel Castros Sieg bis zu seinem Rücktritt im Greisenalter waren Kuba und die USA erbitterte Feinde. Dann entschloss sich die Obama-Regierung zu einem Versuch, das Kriegsbeil zu begraben. Trump findet alles schlecht, was Obama gut fand. Das sind vielleicht mehr bad vibrations, als sie der durchschnittliche Mitarbeiter einer US-Botschaft in Havanna aushalten kann. Soll er die beiden Völker versöhnen oder ist er Vorposten im Feindesland? Früher haben US-Amerikaner wie Ernest Hemingway in Kuba das mediterrane Gefühl, die Musik, den Tanz, den Rhythmus der Lebensfreude gesucht. Und jetzt? Dürfen sie sich darauf einlassen oder müssen sie einen unsichtbaren Krieg führen - mein Lauschangriff gegen deinen Schallangriff? Wer im Lärm leben muss, sehnt sich nach Ruhe. Aber nicht alle Menschen, die dem Lärm entfliehen können, finden diese Ruhe. Sie sind ein Beleg dafür, dass Friede und Entspannung in unserem Nervensystem gerade nicht die Folge von Untätigkeit und Erschöpfung sind. Sie benötigen im Gegenteil ein intaktes und gewissermaßen tatkräftiges Funktionieren des Organismus.
Wer seelisch überlastet und verletzt ist, kann die Störgeräusche nicht mehr unterdrücken, die in seinem eigenen Kopf entstehen. Tinnitus ist ein quälendes Symptom, das die Lebensfreude erheblich einschränkt. Viele Soldaten kamen aus dem Krieg mit solchen Ohrgeräuschen zurück. Sie wurden manchmal zu einer Plage für Familien, die ihre Persönlichkeitsveränderung nicht begriffen. Über das Symptom hinaus geht es auch darum, die nervöse Überlastung zu erkennen und anzugehen, die sich hinter ihm verbirgt. Im Alltag ist das etwa Mobbing im Büro oder eine lieblose Ehe; in Kuba womöglich ein Politikstau nach hoffnungsvollen Anfängen.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.