- Berlin
- Terroranschlag vom Breitscheidplatz
Keine Normalität in Sicht
Opfer und Hinterbliebene blicken mit Sorge auf den Jahrestag des Anschlags von Anis Amri zurück
Es war eine groteske Situation. Als am Tag nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz bereits ein Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche stattfand, da suchten Menschen noch ihre Angehörigen. Das Bundeskriminalamt ließ sich 72 Stunden Zeit für die Identifizierung der Opfer. Niemand stand den Betroffenen zur Seite. »Diese Ungewissheit und dieses Gefühl, alleine gelassen zu werden, ist für viele von ihnen ein schrecklicher Moment gewesen«, sagt der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber.
Viele wollten nach dem Anschlag rasch wieder zur Normalität übergehen und sich nicht dem Terror beugen. Nach drei Tagen öffneten die Buden wieder auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Da war der Täter Anis Amri noch auf der Flucht. Nach zwei Wochen gab es eine Diskussion darüber, ob der Lastwagen, mit dem elf Menschen umgebracht und beinahe 70 verletzt wurden, nach dem Abschluss der Ermittlungen ein Museumsstück werden sollte - den polnischen Lkw-Fahrer, das zwölfte Opfer, hatte Anis Amri vor dem Anschlag im Fahrerhaus erschossen. Weil der Lkw ein Zeugnis deutscher Zeitgeschichte sei, wie Befürworter dieser Idee meinten. Der Vorschlag setzte sich letztlich nicht durch. Der Lkw wurde mittlerweile verschrottet.
Weber dagegen war für die Opfer und die Hinterbliebenen zur Stelle. Er kümmerte sich fast als Einziger um sie. »Ich erstellte für die Betroffenen eine Liste mit Ansprechpartnern, damit sie wussten, an wen sie sich halten können« - etwa bei Fragen rund um die Beerdigung; wie sie medizinische Unterstützung bekommen oder wer ihnen bei Traumatisierungen zur Seite stehen konnte.
Das Ehrenamt als Opferbeauftragter wurde für Weber zur Vollzeitarbeit. Seine Tätigkeit in einer Rechtsanwaltskanzlei ließ er im Januar und Februar ruhen. Zwar bekam er von allen Seiten Lob - aber in den ersten Wochen nach dem Anschlag stand er für mehr als hundert Betroffene nahezu alleine da. Dieser Aufgabe konnte er nicht gerecht werden.
Vor einigen Wochen veröffentlichten die Betroffenen einen Brandbrief, in dem sie eine fehlende öffentliche Unterstützung bemängelten. »Ich kann den Unmut nachvollziehen«, sagt Weber. Die Erwartung nach dem Terroranschlag sei eine besondere. Der Angriff habe schließlich nicht den Betroffenen persönlich gegolten, erläutert Weber. »Sie waren Zufallsopfer.« Amri attackierte bekanntlich die Bundesrepublik im Auftrag des sogenannten Islamischen Staates. »Die Opfer sind stellvertretend für den Staat gestorben«, sagt Weber. Und der reagierte nur sehr zögerlich. Während die Opfer aus Italien, Polen und Israel öffentlich im Beisein von Regierungsvertretern betrauert wurden, agierte die Bundesregierung merklich zurückhaltend. Angehörige der Hinterbliebenen kritisierten, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihnen noch nicht persönlich kondoliert habe. Erst für Montagabend, den Vorabend des Jahrestages, war ein Treffen mit Betroffenen geplant. Die fragen sich noch immer, wie es dazu kommen konnte, dass niemand Amri aufhalten konnte und er das Attentat ausüben konnte, obwohl es viele Hinweise auf seine Radikalisierung gegeben hatte.
Im März hat Weber die ersehnte Unterstützung für seine Arbeit bekommen. Kurt Beck trat seinen Posten als Opferbeauftragter der Bundesregierung an. Auch der ehemalige rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsident ist ein ehrenamtlicher Kümmerer. Er erzählt von einer Frau, die am Anfang ihres Studiums stand und beide Eltern verlor. »Die Lebensperspektive drohte ihr aus den Händen zu rinnen.« Ein mit den Eltern befreundetes Ehepaar konnte helfen. Beck gelang es zudem, private Unterstützung zu organisieren, so dass die Frau ihr Studium finanzieren konnte. Bei einer anderen Familie war die Mutter eines nunmehr sechsjährigen Kindes umgekommen. Beck versuchte, den plötzlich alleinerziehenden Vater zu unterstützen. Der Physiker brauchte eine neue Arbeitsstelle, zog von Braunschweig nach Dresden. Dort wurde auch der Sohn in diesem Sommer eingeschult.
Aber Beck ist auch ein Mahner. »Als Staat waren wir auf eine solche Situation nicht vorbereitet«, gibt er zu. »Formal schon, aber nicht innerlich«, mit all dem, was ein solcher Terroranschlag zu bedeuten habe. »Daraus müssen wir Lehren ziehen«, sagt er. Notwendig seien Ansprechpersonen, die bei einem künftigen Notfall unmittelbar zur Verfügung stehen, lautet seine zentrale Empfehlung aus dem Abschlussbericht über den Anschlag am Breitscheidplatz. Zustimmung hat bereits Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bekundet. Wann das Vorhaben umgesetzt wird, ist noch unklar.
Einen Schritt weiter ist bereits das Land Berlin. In der Hauptstadt soll eine zentrale Anlaufstelle für Terroropfer und deren Angehörige im kommenden März ihre Arbeit aufnehmen. Vier Fachkräfte sind dafür vorgesehen - ein Jurist, ein Psychologe, ein Sozialarbeiter und ein Sachbearbeiter -, die in ihrer alltäglichen Arbeit mit anderen Aufgaben betraut sind. Sollte sich aber ein Katastrophenfall ereignen, können sie sofort zur Verfügung stehen. »Vorbild für uns ist die zentrale Anlaufstelle in Paris, die nach den Terroranschlägen von 2015 eingerichtet worden ist«, erklärt Weber.
Beck und Weber bemängeln darüber hinaus die geringen finanziellen Hilfen für die Betroffenen. Nach dem Opferentschädigungsgesetz erhalten Eheleute für den Tod des Partners lediglich 10 000 Euro, Geschwister eines Getöteten 5000 Euro. »In anderen europäischen Ländern sowie in Amerika und Israel gibt es zum Teil deutlich höhere Leistungen«, erläutert Beck. Eine Reform des Opferentschädigungsgesetzes fordern auch die Sozialminister der Länder. Sie werden die neue Bundesregierung unter Druck setzen, das Gesetz zu novellieren. Immerhin haben die Betroffenen vom Breitscheidplatz zusätzliche Hilfen aus einem Härtefallfonds der Bundesregierung und der Verkehrsopferhilfe bekommen. Bislang erhielten sie rund 1,6 Millionen Euro.
Aber Geld kann das Geschehene nicht vergessen machen. »Viele der Betroffenen blicken mit Sorge dem ersten Jahrestag des Anschlags entgegen«, erzählt Weber. »Nicht alle werden bei den Gedenkveranstaltungen teilnehmen«, weiß er - weil es ihnen noch immer schwerfalle, mit der Situation umzugehen.
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