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Die Macht der Statisten
Abgeordnete sind frei - viel hängt davon ab, was sie sich selbst trauen
Wem hat der Parlamentarier zu folgen? Seinem Gewissen allein, so steht es im Grundgesetz. Und sein Gewissen allein sollte er dann wohl auch fürchten müssen. Das ist ein verführerisches Angebot. Wem sonst steht an seinem Arbeitsplatz so viel Freiheit zur Verfügung? Doch so lustig ist das Abgeordnetendasein auch wieder nicht. Denn das Gewissen tritt gegenüber anderen Einflüssen in den Hintergrund, wenn man es erst mal in den Bundestag geschafft hat. Jeder Abgeordnete lernt spätestens hier, dass es im Plenum Gewissensentscheidungen und normale Entscheidungen gibt. Die Gewissensentscheidungen sind die sehr seltene Ausnahme.
Bei diesen Ausnahmen geht es meist irgendwie um Partnerschaft und Fortpflanzung. Die Ehe für alle war eine solche Gewissensentscheidung, und um komplizierte Fragen der künstlichen Befruchtung ging es schon. Selbst das Sterben wurde zur Gewissensentscheidung erklärt - aber nur, als es um das freiwillige Sterben ging, also jenen Moment, der auch Abgeordneten irgendwann bevorstehen könnte. Über ungewünschte Sterbehilfe, Militäreinsätze im Ausland, wird dagegen immer wieder in monolithischer Fraktionsformation abgestimmt. Der Abgeordnete ist Statist auf der Parlamentsbühne.
»Fraktionszwang« heißt das Fachwort zur Disziplinierung jener Abgeordneten, die nicht schon von sich aus der vorbestimmten Entscheidung zuneigen. Auszuscheren aus der vorgegebenen Stimmempfehlung kann das eigene Ende mit sich bringen. Jedenfalls das der politischen Karriere.
Christian Simmert war Abgeordneter der Grünen von 1998 bis 2002. In diese Zeit fielen die Entscheidungen über die Kriegseinsätze in Jugoslawien und in Afghanistan. Als klar wurde, dass Abweichler die rot-grüne Regierungsmehrheit zum Afghanistan-Einsatz gefährden, der Fraktionszwang also nicht hinreichen würde, erpresste Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Zustimmung von SPD und Grünen, indem er die Abstimmung über den Bundeswehreinsatz mit einer Vertrauensfrage verband. In seinem Buch »Die Lobby regiert das Land« beschreibt Simmert den Druck, dem die acht Abgeordneten seiner Fraktion fortan ausgesetzt waren. Sie wollten den Kriegseinsatz verhindern, aber die Regierungskoalition nicht platzen lassen. Die Opposition aus Union und FDP wiederum, die dem Kriegseinsatz eigentlich zugestimmt hätte, lehnte ihn ab, weil sie sonst dem Kanzler ihr Vertrauen ausgesprochen hätte. Es brauchte die Stimmen einiger »Abweichler« in den Regierungsfraktionen SPD und Grüne.
Unter dem Druck der Medien, der Fraktionsführung und der eigenen Kollegen schmolz das ohnehin kleine Häuflein der Kriegsgegner zusammen. Er sei »mit bösen Blicken malträtiert, ausgequetscht wie eine Zitrone oder mit zynischen Sprüchen überzogen« worden, beschreibt Simmert den damaligen Herbstempfang seiner Fraktion. Die Nötigung zur Fraktionsdisziplin verfolgte die Delinquenten auf allen Wegen. Sogar der Bundestagspräsident, qua Amt der Wahrung der Rechte der Parlamentarier verpflichtet, rief Simmert an, um ihm klarzumachen: »Ich solle nicht an das Gewissen, sondern ans Land denken.« Der Kanzler persönlich kam in die Grünen-Fraktion, um zu verkünden: Er verstehe ja, wenn Abgeordnete mit diesem Junktim Probleme hätten. Aber: »Es gibt ja auch die Möglichkeit, das Mandat niederzulegen.«
Am Ende gaben ausreichend viele Abgeordnete nach, sie fürchteten die Verantwortung, wollten mit ihrem Nein zum Afghanistan-Mandat nicht die Bundesregierung zu Fall bringen. Simmert blieb standhaft und zahlte mit einem Hörsturz, in der nächsten Legislatur trat er nicht wieder für den Bundestag an. Einige seiner Gesinnungsgenossen erhielten bei der nächsten Wahl keine sicheren Listenplätze mehr, Christian Ströbele schaffte es als Direktkandidat trotzdem in den Bundestag.
Demagogie und Beschimpfung halten sich gern die Waage, wenn der Fraktionszwang durchgesetzt wird. 1999, als es um Bombardements in Serbien ging, unterbrach Außenminister Joschka Fischer, der Menschenrechtsverletzungen in Kosovo mit dem Massenmord in Auschwitz gleichsetzte, seinen Fraktionskollegen Ströbele, der sich der Entscheidung für Bombardements widersetzte, mit dem Zwischenruf: »Über wie viele Leichen wollt ihr Linken denn noch gehen?«
In der Union geht es unter Umständen ganz ähnlich zu. Vom ehemaligen Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) ist der irritierende Ruf überliefert, mit dem er dem Abgeordneten Wolfgang Bosbach die Meinung geigte: »Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen!« Und als 60 Abgeordnete der Union sich den Griechenlandkrediten verweigerten, in denen sie irrtümlich einen Ausverkauf deutscher Interessen sahen, drohte Fraktionschef Volker Kauder mit Entmachtung der Beteiligten durch Entzug von Ausschussposten.
Grund für das Phänomen des Fraktionszwangs ist keine Ideologie, sondern die Tendenz der Regierung, der Legislative die Entscheidungen vorzugeben. Eigentlich soll diese, soll das Parlament die Regierung kontrollieren. Doch in der Praxis ist das Parlament die Machtbasis der Regierung; gerät die Mehrheit ins Wanken, ist es mit dem Regieren vorbei. Die Angst vor einer Minderheitsregierung, die derzeit das Agieren der Bundeskanzlerin gegenüber der SPD bestimmt, folgt genau diesem Reglement.
Beratungszeiten von Gesetzentwürfen im Bundestag werden von den üblichen sechs Wochen auf wenige Tage zusammengestrichen, wenn es der Regierung passt. In der Union ging eine Zeitlang das Wort vom »EDEKA«-Klub um - Mitgliedern war das »Ende der Karriere« angezeigt. Von Beichtstuhlverfahren ist unter Abgeordneten der Union die Rede, wenn sich der Fraktionschef aufmüpfige Abgeordnete vorknöpft.
Unlängst wurde vom brasilianischen Präsidenten Michael Temer gemeldet, Furcht vor Gespenstern habe ihn und seine Familie aus dem luxuriösen Alvorada-Palast in der Hauptstadt Brasilia vertrieben. Er habe keinen Schlaf finden können, und ein Priester, der die Geister vertreiben sollte, scheiterte. Von allen guten Geistern verlassen, kann man schon auf drastische Maßnahmen kommen. Wie Wolfgang Bosbach, der in diesem Jahr schwerkrank aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Er meldete bereits öffentlich einen Wunsch für seine Bestattung an. Es solle wenigstens dort keinen Fraktionszwang geben. Kommen sollen nur Freunde.
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