Verschwörerischer Pseudoaktivismus: Brave klandestine Umsturzplanung

Leo Fischer über den sentimental-radikalen Typus und das Fest des Sichgeradenochaushaltens

Wird man in ferner Zukunft auf dieses Jahrzehnt zurückblicken, dann wird ein Phänomen wohl als sein Markenkern begriffen werden: die Gleichzeitigkeit von kleinbürgerlichem Winkelglück und politischem Sektierertum. Während er Manufactum-Kataloge studiert und dem Lieblingsitaliener bei Instagram ein Denkmal baut, sich eine heimelige Welt aus aufregendem Konsum und nachhaltigem Erleben zurechtschwindelt, verliert sich der radikale Kleinbürger zugleich in politischer Überbietungsrhetorik.

Jeder will es zugleich kuschelig haben und auf Messers Schneide leben, will die Verhältnisse umstürzen und Fahrradurlaub auf Fünen machen. Das trauliche Nebeneinander von Katzenflausch-Memes und stets lauter heulenden Aufrufen gegen »Asylirrsinn« und »Gender-Gaga« wurde hier schon in einer früheren Kolumne notiert. 2010 waren die digitalen Morddrohungen an politisch Unliebsame noch anonym, inzwischen treten die Leute nicht nur im Netz unter ihrem echten Namen auf, sondern auch im realen Leben - der Fall des Antisemiten, der in Berlin einen jüdischen Restaurantbesitzer bedroht hat, offenkundig ohne Furcht vor Konsequenzen, hat es gezeigt.

Aber auch im Bildungsbürgertum ist der neue sentimental-radikale Typus inzwischen weit verbreitet; weswegen sich auf dem Kaffeetisch des Oberstudienrats neuerdings nicht nur Bildbände über die Toskana, sondern auch erregte Pamphlete gegen Überfremdung und Rassenschande finden.

Es liegt in der Logik der sozialen Medien und des automatisierten Marketings, die Leute stetig weiter zu radikalisieren - gleich, auf welcher Seite des politischen Spektrums sie zum Landen gekommen sind. Was gefällt, wird verstärkt; wer eine »Welt«-Kolumne geliked hat, der ist in wenigen Wochen von »Tichys Einblick« über »PI News« schließlich zu »Russia Today« geführt. Jeder fühlt sich als Guerillero, im Besitz geheimer Informationen, versteht sich als Agent; die Reichsbürgerbewegung ist nur der bizarrste Auswuchs dieses Denkens.

Man geht morgens brav ins Büro und lacht über die Witze des Chefs, während man glaubt, mit ein paar Likes und in klandestinen WhatsApp-Gruppen am Umsturz aller Dinge zu arbeiten. Mit »Verschwörungstheorie« ist dieses Phänomen unzureichend gekennzeichnet, insofern es ja ein verschwörerischer Pseudoaktivismus ist: Während man ein geruhsam bürgerliches Leben führt, imaginiert man sich selbst als geopolitischen Strategen, als »Infokrieger«, als subversives Element mit Lohnsteuerkarte.

Der stets trister werdenden Wirklichkeit entflieht man in gleich zwei Fantasien: in die debile Naturutopie geistloser Wuscheltiere wie auch in das imaginierte Selbstbild als Geheimagent. Das graue Leben wird verschönert mit Pferdepostern und dem angstlüsternen Traum vom heimlichen Bürgerkrieg. Beiden Wunschbildern ist gemein, dass sie die Sprachlosigkeit affirmieren: Im Naturglück spricht keiner, im Agentenfilm darf keiner sprechen, jedenfalls nicht aufrichtig. So liefern die Träume Begründungen für die ohnehin existierende Macht- und Sprachlosigkeit der Individuen. Deswegen garnieren gerade die perfidesten Politseiten jede dritte Wutmeldung mit Tier- und Kinderbildern, damit sich der Kleinbürger gelegentlich nicht nur als eiskalter Krieger, sondern auch als eiskalter Herzensmensch fühlen kann. Das Phänomen ist übrigens nicht aufs rechte Spektrum begrenzt; auch in linken Zirkeln macht sich zunehmend ein kleinbürgerlicher Obskurantismus breit, in der die offene Auseinandersetzung durch konspirative Facebook-Gruppen und das Raunen über vermeintliche Abweichler ersetzt wird. Auch hier wird der Rhythmus Aufreger-Flausch, Aufreger-Flausch in aller Brutalität durchgehalten.

Wo jeder halbautomatisiert in die je eigene radikale Wahnwelt geführt wird, bestärkt von »Freunden« und ihren Linkempfehlungen, werden die Momente selten, in der die Filterblasen aufeinanderprallen. Weihnachten 2017 dürfte nicht nur in den tief gespaltenen USA zu einem Spektakel der Ernüchterung werden: Auch in Deutschland war das vergangene Jahr eins der triumphierenden Fake-News und der automatisierten Radikalisierung. Immerhin: Dieses Weihnachten wird einer der wenigen Momente im Jahr sein, die die Belastbarkeit der eigenen Ansichten überhaupt noch auf die Probe stellen. So wird das Fest der Liebe 2017 zum Fest des Sichgeradenochaushaltens, der Toleranz, ja vielleicht: der Demokratie. Eventuell wird es ja auch mal verfilmt.

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