Der Höhenfluch
Shakespeares »Richard III.« am Residenztheater München. Regie: Michael Thalheimer
Gott ist feige. Er wagte es nicht, dem Menschen die Wahrheit über die Welt zu sagen - so erfand er Shakespeare. Dessen Weisheit, die uns trifft: das gute Böse, das böse Gute. Du magst gewinnen noch und noch - irgendwann stehst du mit deiner Kläglichkeit mitten im Universum, allein und angstgepeinigt. Ehrgeiz zum Beispiel und Weltverbesserungsfuror: Beides ist Angst, die nach vorn flieht. In Gemälden solcher Angst ist Shakespeare am stärksten. Das Ehrsame und das Grausame: nie getrennt, sondern ineinander verfilzt, und oft ist das Edle die größere Lüge als das Dreckige. Reizloser ist es sowieso. Was die dreckigsten Gestalten Shakespeares eint, ist die Logik dreier Worte: Blut will Blut.
Ja, die schlimmen Schlingel kitzeln uns. Im Gehirn gibt es aktivierbare Kurzschlüsse zwischen Lust- und Gewaltnerven, und totale ethische Verwirrung verträgt sich mit hoher Intelligenz - bis hin zum Vernichtungsrausch. Am Residenztheater München inszenierte Michael Thalheimer »Richard III.«, die wohl rünstigste Geschichte vom Manne, der sich zum König hochmordet (Bühne: Olaf Altmann, Musik: Bert Wrede, Kostüme: Michaela Barth).
Die Inszenierung, zweieinhalb Stunden lang, ist konsequent unwirsch, sperrt sich gegen jede psychologische Spannung. Sie handelt nicht mit unserem Erschütterungswillen, sie brüllt dich an, ein Konstrukt bewusster Hässlichkeit. Sie ist weniger Aktion als Malerei. Ist weniger ein Treiben als ein statisches Grundbild. Ist kreischende Lakonik. Sie feilt nicht an Finessen und Stufungen der Demagogie, sie malträtiert mit Eindeutigkeit. Thalheimer trifft eine harte Entscheidung: der Mörder monolithisch; die Regie ebnet alle und alles ein, sie schert alle Lebenden über einen Kamm, und auf dem bläst der Tod sein malmendes Moll.
Aber das hat Sinn und Schärfe. Sei es die schreckstarre Königin Elisabeth der Hanna Scheibe, die nervenzuckende Lady Anne der Anna Drexler, die zerhärtete Herzogin York der Charlotte Schwab, die schmallippig verfluchende Margaret der Sibylle Canonica, die wie eine Beingelähmte stapft, zwei Schwerter als Krücken: Sie alle, und auch die Lords, sind Auswürfe eines Wankelmuts, der einzig eins bedeutet: Zuarbeit für Richard. Unterwerfung der Vielen ist es, die jene Überlegenheit des Einen provoziert; der Sklave macht den Herrn; beschädigte Psychen erheben den Psychopathen zum Gesundbeter. Ja, Shakespeare kannte schon Stalin. Nur wenn die York die Hassrede gegen ihren Sohn Richard schleudert, steigt sekundenlang die Klage aller Mütter auf, und zugleich tötet diese Frau, Wort um Wort, alles Mütterliche in sich ab.
Kein Wille bei Thalheimer, zu gefallen; kein Entgegenkommen durch Glanzstellen der Differenzierung; kein Aufweichen dieser kalt gleichmütigen Abscheu durch spielerische, inszenatorische Virtuosität; im Brutal-Stakkato kein erotisches Glühen. Dramaturg Bernd Stegemann hat vor geraumer Zeit in einem Essay die Elemente einer Thalheimer-Inszenierung mit dem »kristallisierten Magma eines Vulkanausbruchs« verglichen. »Die Eruptionen sind vorüber, doch ihre groteske Gewalt ist in der schwarzen Asche geronnen und als Nachglühen spürbar. Wie die ausgedünnten Figuren Giacomettis, die Schattenmenschen Becketts oder die vielen Untoten unserer Zombie-Gegenwart ist das Leben auf einen Nullpunkt zusammengezogen und nichts lässt mehr hoffen, es könne dereinst besser werden.«
Schwarze Asche? Die Bühne ist mit einer dicken Schicht kleiner Abfallklumpen bedeckt. Glüh- und Glimmerreste? Geschreddert, was fest war? Der getrocknete Modder geborstener Fundamente? Vor fünf Jahren fand man unter einem Parkplatz in Leicester Skelettteile, die per DNA-Abgleich als Knochen Richards identifiziert wurden. Der Boden hier wirkt, als sei es der von Pressluftbohrern gehäckselte Beton jenes Fundortes. Alle Gestalten krauchen von sehr weit hinten vor ins Licht, als brächen auch sie aus Gräbern. Staubschwimmen, Müllstampfen, Geröllwaten. Archäologie, die blutleere Wiedergänger gebiert.
Der Raum ist rundum ein fensterloser Bretterverschlag, der nach oben hin kein Ende hat. Alle sehr verlassen im Verlies. Alle tief verscharrt im Schacht. Das Schwarz nur notdürftig zerschnitten von schmalen Bahnen aus Scheinwerferlicht. Wo es Konturen produziert, schafft es gleißende Leichenblässe.
Freilich: Der Bericht vom Mord an den zwei kleinen Prinzen im Tower, der zu den erschütterndsten Beispielen gehört, wie das Entsetzlichste in Poesie gefasst werden kann - er verfehlt auch hier seine Wirkung nicht. Der Bote steht am Seitenportal; wenn er abgeht, ist es seine ausgestreckte rot gefärbte Hand, die sich als letztes Signal zurückzieht ins Dunkle. Thalheimers Zeichenhorror - zu dem auch jene rote Plastiktüte gehört, die der diensthysterische, wahnbrutale Catesby des Marcel Heuperman beflissen über todgeweihte Köpfe stülpt, um dann wie ein glücksberührter Irrer die zuckenden Beine seiner Opfer zu bestaunen.
Das Ereignis: Norman Hacker als Richard. Stark! Offener Mantel über entblößtem Bauch. Lange fettige Haare. Wird ihm ein Mord gemeldet, quittiert er das mit einer Träne. Wird er angespuckt, gibt er den fassungslosen Schnappatmer. Im Fluchdonner seiner Mutter kniet er wie versteint, kriecht dann ins zittrige Winseln. Hacker tobt, triumphiert, tuschelt, tönt, tapst, trampelt. Verstottert sich aufgebracht im trefflichsten Befund: »blödes Volk«.
Thalheimers Coup: Übergangslos strafft sich der geduckt Verkrüppelte zum bruststreckenden Potentaten. Zum Potentäter. Zum Posentäter. Dieser Richard, ein Behinderter, spielt nur, was alle wollen: Betrug - die Versehrten sind im Grunde die Anderen: Sie buckeln. Fügsamkeit verkrüppelt wie nichts sonst. Und wie sie sich einrichten in des neuen Königs grenzensprengenden Bösartigkeiten: Geiz an Charakter ist geil.
Vor über vierzig Jahren saß Hilmar Thates unvergesslicher Richard an der Rampe im Deutschen Theater Berlin, kumpelte mit den Zuschauern, schmeckte gaumig die eigene Grauenhaftigkeit ab. Auch Hackers Massenmörder teilt sich: in den offiziell heuchelnden Richard und in jenen, der sich ins Publikum hinein ganz in seiner Schaurigkeit öffnet.
Und doch ist diese Herwendung eine vorgetäuschte: Sie bleibt in jedem Moment nur ein Kontakt zu jenem Nichts, aus dem alles kommt. Richard spricht mit dem Nichts, das Nichts hört zu und antwortet: Es verschlingt. Thalheimers Schauspiel, auch wenn es an die Rampe tritt, kommt uns also nicht näher, es bleibt fremd, es zeigt uns seinen Frost wie einen traurigen Sieg. Als könne Kälte einem Herzen nur dann entweichen, wenn es gebrochen ist. Thalheimer bricht gern mit seinem Publikum - um es zu erreichen.
Im Kerker dieser Aufführung, der bis an alle Himmel reicht, dröhnt jener gesamte Hohlraum Geschichte, darin auch wir Heutige umherstolpern. Zwischen Polterern und Parteien, zwischen Protz und Pöbel, zwischen Protesten und Preisgaben, zwischen Problemen und Plunder. »Richard III.« bleibt akut als Tragödie des radikal Einsamen. Der so einsam wird, weil er nicht einfach nur Freiheit behauptet, sondern radikal deren Voraussetzung praktiziert: Schuld. Absolute Freiheit, absolutes Ich - das liegt dicht bei: Schurkerei. Und bis zum ersten Mord gibt es viele Momente, da man Richard zustimmen könnte (ihm und nahezu jedem Grobian, der den gerade regierenden Etablierten ins Hirn haut!)
Ja, nickt die Geschichte, das kennt sie. Unmerklich läuft das ab, aufsteigend, also abgrundwärts - bis zur ersten Denunziation, bis zum ersten Schauprozess, bis zum ersten Verrat, bis zur ersten Erschießung, bis zum ersten Bombenabwurf. Man muss bloß regelmäßig die Gespräche mit dem eigenen Gewissen ausschlagen: wie schnell man doch weiter und höher kommt. Immer weiter weg von sich selbst. Der Höhenfluch. Im Dienst der Sache, die stets die gleiche blieb, wie jeweilig anders sie auch heißt.
Begonnen hatte der Abend, indem Richard dem König Heinrich VI. messerscharf an den Hals ging. In Wiederholung dieser Szene geht Richmond am Ende Richard an den Hals. Dessen Kopf: in der Krone verklemmt wie in einer Fußangel - was über die Augen rutscht, ist einfach nur komisch. Niedersturz. Dreck zu Dreck. Zu Richmonds Wort vom Frieden erfüllt den Bretterverschlag plötzlich - Licht: Jede Entmachtung ist Hellsichtigkeit, aber Aufklärung auch die Maske neuer Finsternisse.
Nächste Vorstellungen: 7. und 8. Januar
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.