Renaissance der Tarifverträge

Sachsens neuer DGB-Chef Markus Schlimbach will Ostthemen stärker betonen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Zufall wollte es, dass nur drei Tage nach Ihrer Wahl auch ein neuer Ministerpräsident in Sachsen gewählt wurde. Was erwarten Gewerkschafter von Michael Kretschmer?
Wir hoffen auf eine andere Herangehensweise an Arbeitnehmerfragen als bei seinen Vorgängern. Kurt Biedenkopf brauchte uns nur, als es Anfang der 1990er darum ging, gegen die Treuhand um den Erhalt von Betrieben zu kämpfen; danach waren wir für ihn nicht mehr interessant. Georg Milbradt hatte gar kein Verhältnis zu uns, Stanislaw Tillich ein freundlich-distanziertes. Bei Themen wie Siemens oder der Fachkräfteentwicklung geht es aber nicht ohne Gewerkschaften. Michael Kretschmer scheint, auch durch seine Erfahrung als Abgeordneter in Berlin, eine andere Einstellung zu haben und zu wissen, dass Gewerkschaften ein Teil der sozialen Marktwirtschaft sind, auf den es Rücksicht zu nehmen gilt.

Bei Siemens droht ein Kahlschlag; der Konzern will zwei Werke schließen - in Görlitz und Leipzig. Wie sehen Sie den Umstand, dass es ausgerechnet Ostdeutschland trifft?
Ein verheerendes Signal, zumal Zahlen und Auftragslage beider Werke das nicht rechtfertigen. Ich halte es generell aber für schlimm, dass ein Konzern Werke schließt, nachdem er gerade Gewinne in Milliardenhöhe verkündet hat. In einer solchen Situation Massenentlassungen zu machen, sollte gesetzlich verboten werden. Von sozialer Verantwortung ist da nichts zu spüren. Die predigt man bei Siemens wohl nur in Hochglanzbroschüren.

Zur Person
Neuer Landesvorsitzender des DGB in Sachsen ist Markus Schlimbach. Eine Bezirkskonferenz wählte den 52-Jährigen kürzlich mit 95 Prozent ins Amt. Schlimbach wuchs in Karl-Marx-Stadt auf, ist Buchhändler, SPD-Mitglied und war zuletzt schon Stellvertreter von Iris Kloppich, die nun nach sieben Jahren nicht mehr kandidiert hatte.

Was können Beschäftigte und Politik dagegen ausrichten? Welche Figur macht die Regierung?
Wir nehmen erfreut zur Kenntnis, dass Kretschmer ein Treffen mit Siemens-Chef Joe Kaeser in München nicht nur als persönlichen Erfolg verkaufte, sondern den Druck von Betriebsräten und Gewerkschaften mit dafür verantwortlich gemacht hat, dass der Konzern jetzt zu Gesprächen bereit ist. Generell sind wir hoffnungsvoll, dass die Beschlüsse zur Schließung nicht endgültig sind. Es bewegt sich etwas, das merkt man. Dass der Vorstandsvorsitzende eines Weltkonzerns nach Görlitz kommt und sich der Belegschaft stellt, hatten wir so noch nicht. Wenn man den Druck aufrecht hält, kann es Lösungen geben, die Werke zu erhalten.

Wäre eine Werksschließung gerade in Ostsachsen Wasser auf die Mühlen der dort starken AfD?
Das steht zu befürchten. Es ist ja eine Region, die ohnehin das Gefühl hat, abgehängt zu sein, und in der die wirtschaftlichen Zahlen schlechter sind als in Leipzig oder Dresden. Wenn dort Leuchttürme wie Siemens oder Bombardier ins Wanken geraten, wird es schwierig. Es bedient die populistischen Argumentationen der AfD, obgleich sie ja keine eigenen Angebote hat jenseits unsinniger Vorwürfe an das Land, nicht genug Fördermittel gezahlt zu haben.

Benachteiligt fühlen sich auch viele andere im Freistaat. Der Sachsen-Monitor 2017 zeigt, dass viele Menschen der Meinung sind, im Vergleich zu anderen im Land zu wenig abzubekommen. Ein nachvollziehbares Gefühl?
Natürlich, wenn man sich beispielsweise die Löhne anschaut. Gerade dort, wo keine Tarifverträge gelten, liegen die Löhne manchmal 50 Prozent unter Westniveau. Ein Viertel der Beschäftigten in Sachsen bekommt nur den Mindestlohn, teils selbst in Industriebetrieben. Das Gefühl einer Lücke zum Westen ist da vollkommen verständlich. Durch den Mangel an Fachkräften entsteht zudem eine Kluft zwischen Neuen, die Kopfprämien und Zuschläge erhalten, und langjährigen Mitarbeitern, die den Betrieb über die Runden gebracht haben und nun erleben, wie junge Leute an ihnen vorbeiziehen. Das erzeugt Frust, aber zunehmend auch den Willen, einen Betriebsrat zu gründen und mit Unterstützung der Gewerkschaften einen Tarifvertrag durchzusetzen.

Beides ist in Sachsen schwierig.
Richtig. Jede dritte Gründung eines Betriebsrats wird behindert, durch Denunziation, Mobbing und juristische Schritte. Wir versuchen in solchen Fällen, Öffentlichkeit herzustellen, Politiker als Paten zu finden - was bei CDU-Politikern im Freistaat leider schwierig ist, obwohl Mitbestimmung für eine Volkspartei ein Anliegen sein sollte. Außerdem drängen wir auf Gesetzesänderungen; es sollte einen Kündigungsschutz geben für die, die sich aktiv um einen Betriebsrat bemühen. Wir wünschen uns generell, dass Betriebsräte und Tarifverträge nicht mehr als exotisch gelten, sondern als selbstverständlich.

Was auch Tarifverträge im Freistaat aber nicht sind …
In Sachsen sind 18 Prozent der Unternehmen tarifgebunden. Das sind zwei Prozentpunkte mehr als vor Jahren, liegt aber unter dem Durchschnitt selbst in Ostdeutschland. Damit sind 43 Prozent der Arbeitnehmer erfasst. Uns reicht das nicht. Wir erwarten auch Unterstützung der Politik. Die Wirtschaftsförderung honoriert inzwischen Tarifbindung, aber da muss noch mehr passieren, etwa durch ein Vergabegesetz, damit öffentliche Aufträge nicht mehr nur an den Billigsten gehen.

Warum ist die Lage ausgerechnet in Sachsen so schwierig?
Es gibt hier Arbeitgeberverbände wie Sachsenmetall, die Vorreiter in der Bundesrepublik waren in der Frage einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Man glaubte in vielen Unternehmen, sich auch ohne Tarifvertrag durch das Geschäftsleben mogeln zu können. Das wird in Zukunft aber nicht mehr funktionieren, weil Fachkräfte knapper werden und Beschäftigte andere Ansprüche haben. Es geht bei jungen Leuten zunehmend nicht mehr nur um Geld, sondern um Arbeitszeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Arbeit ist heute längst nicht mehr alles. Darauf werden sich Unternehmen einstellen müssen. Ich rechne durchaus mit einer Renaissance von Tarifverträgen.

Führt die wachsende Bereitschaft, für Tarifverträge zu streiten, zu wachsenden Mitgliederzahlen in Gewerkschaften?
Zumindest dazu, dass diese trotz sinkender Bevölkerungszahl stabil bleiben; derzeit sind es 275.000 im Freistaat. Zwar gehen viele langjährige Aktive in den Ruhestand, und es kommen weniger Junge in die Betriebe. Aber unter denen ist die Bereitschaft, Gewerkschaftsmitglied zu werden, immerhin deutlich höher als noch vor wenigen Jahren.

Sie waren viele Jahre DGB-Vizechef im Freistaat und sind jetzt Vorsitzender. Was wird sich ändern?
Es wird neue Akzente geben nicht wegen des personellen Wechsels, sondern wegen gesellschaftlicher Entwicklungen. Die DGB-Landesvorsitzenden in Ostdeutschland streben an, sich stärker um ostdeutsche Akzente in der Gewerkschaftspolitik zu kümmern. Wir haben das Gefühl, dass das in den letzten Jahren etwas zu kurz gekommen ist, und wollen deutlicher machen, dass die Bedingungen hier immer noch anders sind. Wie kann die wirtschaftliche Entwicklung im Osten insgesamt vorangebracht werden? Wie geht man mit Firmen um, die hier verlängerte Werkbänke unterhielten und sich nun in den Westen zurückziehen oder nach Osteuropa abwandern? Das sind Fragen, die sich in allen Ost-Bundesländern stellen, genauso wie die der niedrigeren Löhne und der Folgen für die Rente.

Was halten Ihre DGB-Kollegen im Westen von der Idee?
Ich bin gespannt. Im Zweifel müssen wir uns da durchsetzen. Ich kann aber auch sagen: So schlecht ist es um die Solidarität zwischen Ost und West nicht bestellt. Die Kollegen im Westen wissen ja, dass es für sie nichts bringt, wenn der Osten abgekoppelt bleibt, und es dann auch bei ihnen nicht vorangeht. Viele Themen, die uns beschäftigen, sind auch dort relevant. Das Verständnis dafür wollen wir noch etwas befördern.

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