- Politik
- 2017 von A bis Z
Locker bleiben, Teufelshand!
Put-Optionen, neues vom Graecopithecus und ein Erdogan-Witz: 2017 in alphabetischer Ordnung.
Anstrahlung, die: bis ins Frühjahr 2017 in Berlin bestehende Sitte, nach Terroranschlägen das Brandenburger Tor in Nationalfarben zu illuminieren. Dieser schönen Geste machte ein Selbstmordattentat in einem nichtwestlichen Land ein Ende. Dass es nun statt Beileid für alle Gefühle für niemand gibt, trifft die Befindlichkeit im Jahr zwei nach dem Flüchtlingssommer ganz hervorragend. Und besser für die Klimabilanz ist’s auch.
Belagerung, die: derzeit vordringlich im irakisch-syrischen Geschehen gebräuchliche Kriegstaktik, die auf Beschuss und Abriegelung eingeschlossener Territorialeinheiten beruht und deren grausames Kernelement in einer Verwischung der Grenze zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten besteht. In der moralischen Bewertung ist die bündnispolitische Kreditwürdigkeit der Beteiligten Kriterien wie der Zahl ziviler Opfer vorzuziehen, um Weltbildstörungen vorzubeugen. So wird der einen Stadt Ermordung der anderen »Befreiung bei abnehmender Menschlichkeit« – eine Wortschöpfung, die den Jahresrückblickern beim »Spiegel« den Ehrenwimpel für angewandten Zynismus einbringt.
Compliance, die: Kapitalslang für den von Sozialromantikern für selbstverständlich gehaltenen Umstand, dass bei der Verwandlung von Geld in mehr Geld Recht und Gesetz einzuhalten sowie gewisse moralische Mindeststandards zu beachten seien. Die Naivität dieser Annahme demonstriert derzeit ein führender deutscher Kraftwagenhersteller: Während man sich in einem Absatzboom sonnt, den die Angst betrogener Kunden vor Fahrverboten trägt, verschwindet ein im Ausland in den Fokus geratener Ex-Mitarbeiter mittleren Ranges für Jahre hinter Gittern und werden kurz vor Weihnachten reihenweise Leiharbeiter entlassen – ein laut Eigenwerbung »ganzheitlicher, integrativer Ansatz, der das Risikomanagementsystem, das Interne Kontrollsystem und das Compliance-Managementsystem« vereint.
Dominatorendomino, das: Internetverschlagwortung, die Dutzende Politiker, Hollywoodzaren und sonstige Mogule wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Angrapschens oder auch nur dümmlicher Herrenwitze am Arbeitsplatz an den Pranger oder ins Nirgends versetzt, indem eine Kultur der Straflosigkeit durch eine Kultur von Vorwurf gleich Urteil gerächt wird. Die Initiatorinnen sind die Personen des Jahres des »Time«-Magazins, auch wenn das D. erst ab einem gewissen Nachrichtenwert der Beklagten funktioniert. Für Ich-Auch-Erfahrungen von Verkäuferinnen oder Reinigungskräften sind statt Hashtags weiterhin Betriebsräte nötig, und die sind, wo es sie gibt, nicht sexy genug für Talkshows.
Erdogan-Witz, der: Kommt ein türkischer Häftling in die Gefängnisbibliothek: Haben Sie meine Lieblingszeitung? – Viel besser, wir haben den Chefredakteur.
Friedensprozess, der: Weg zum ewigen Frieden, über den die Philosophen streiten. Nach Kant geht es um Anerkennung, Vertrauensbildung und Verrechtlichung, Cicero empfiehlt Frieden durch Rüstung, also durch Abschreckung oder Sieg. Auch wenn nun vermutlich selbst seinem Büro nicht klar ist, was der Weltmachthaberer mit seinem Wahlspruch vom »Frieden durch Stärke« meint, tendiert der F. im allgemeinen wie in seinen notorischen lokalen Inkarnationen deutlich zu Cicero. In diesem Sinn ist es eine gute Nachricht, dass Friedensforscher 2017 nach fünf gegenläufigen Jahren eine satte Steigerung der Militäretats festgestellt haben.
Graecopithecus, der: urzeitliche Hominidensorte, deren Fossilien neuerdings dergestalt gedeutet werden, dass die Menschheit womöglich doch nicht nur in Ostafrika, sondern auch in Europa entstanden sei. Durch diesen symbolischen Farbwechsel lässt der G. darauf hoffen, dass der Anteil etwa der Amerikaner, die sich eine gottlose Menschwerdung vorstellen können, bald die zuletzt gemessenen zehn Prozent übersteigen könnte – und dass sich gewisse Kräfte in Deutschland in Zukunft mit Paläoanthropologie befassen statt mit anderen Dingen, von denen sie nichts verstehen.
Hafengeburtstag, der: mehrtägiges Hamburger Großevent mit souveränem Management, internationalen Gästen, viel Musik, einem hübschen Feuerwerk und entspannter Partypolizei.
Interregnum, das: Phase der Zentralregierungslosigkeit zwischen 1245 und 1273, die von »anarchischen« Zuständen gekennzeichnet war und in Gestalt von Städtebünden à la Hanse erste Elemente bürgerlicher Selbstregierung in deutschen Landen verankerte – klingt gar nicht so übel.
Jein-Sagen, das: Geste der Zustimmung gegen den eigenen Willen, die von der ältesten Partei Deutschlands abermals zu neuer Perfektion getrieben wurde. Ein Jahr nach Inkrafttreten eines Gesetzes mit entgegengesetzter Überschrift zeigte diese, dass Nein eben nicht »nein« bedeutet, sondern eher »na gut, wenn’s sein muss«. Durch das Prozedere, das einen Parteitag nach den Sondierungen vorsieht und eine Mitgliederbefragung nach Abschluss der Koalitionsgespräche, ist – wie schon 2013 – sichergestellt, dass selbst die tapferen Neinsager aus Thüringen am Ende umfallen. Denn dann wäre ein Nein der sprichwörtliche Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Kein-Spaß-Partei Deutschlands, die: realsatirische Neufassung des klassischen Spaßparteikonzepts, das eine Generalmobilmachung der deutschensprachigen Possenreißerindustrie 2017 endgültig totgeritten hat. Als Nukleus bieten sich die »Liberal-Konservativen Reformer« sowie »Die Blaue Partei« an, zumal die AfD der letzteren ihren Namen wegprozessieren lassen will. Das Satirepotenzial einer solchen Kraft deutet nicht das naheliegende Kürzel KSPD an, sondern auch die mutmaßlichen Ko-Frontfiguren: Bernd Lucke und Frauke Petry.
Liberalismus, der: breit gefächerter Ideenkorpus, dessen hiesiger Wurmfortsatz ein Vierteljahrtausend großer Gedanken auf ein stereotypisches Gejammere über »Enteignung« reduziert, das in allen Fragen von Steuern über Migration bis Emissionsschutz in Stellung gebracht wird. Was heuer, wie hier 2013 vorhergesagt, zu einer gewohnt nassforschen Rückkehr auf die große Bühne reichte, weil auch mal Schluss sein muss mit dem Altruismus der anderen Leute. Es kann sehr schmerzhaft sein, richtig zu liegen.
Mitternachtstweet, der: bevorzugter Kommunikationskanal des Weltmachthaberers, der in der ersten Jahreshälfte im Dreitagestakt die Angst vor einem Atomkrieg, dem Ende der Weltpolizeiordnung oder der Abschaffung des Frauenstimmrechts schürte. In der zweiten Jahreshälfte zeigte der M. indes die kathartische Wirkung, hauptsächlich von Politikern und Journalisten bewohnte Quatschnester auch mal weniger ernst zu nehmen.
Nobelpreisträger, die: Personen, die in Schweden für Bestleistungen in Mathe, Physik oder auch Frieden ausgezeichnet werden. Hervorgetan haben sich 2017 vor allem Laureaten der letztgenannten Disziplin – durch ethnische Säuberung in Ex-Burma oder Förderung der Sklaverei in Ex-Libyen. Um dieses Niveau zu halten, sollte nun der Weltmachthaberer ausgezeichnet werden. Immerhin hat er noch keinen Atomkrieg angefangen!
Oasen, die: Bezeichnung für fruchtbare Orte inmitten von Wüsteneien, die seit einigen Jahren vor allem in fiskalischen Zusammenhängen verwendet wird. Nach einer längeren Phase politischer Vernachlässigung handelt Brüssel nun endlich: Im Zuge eines Förderprogramms werden außereuropäische O. zugunsten innereuropäischer auf eine Schwarze Liste gesetzt.
Put-Option, die: Börsentitel auf das Recht, in der Zukunft eine bestimmte Menge eines Wertpapiers zu einem vorab festgelegten Preis zu verkaufen, was Gewinne verspricht, wenn dieses abstürzt. Dieses Spezialistenwissen wurde heuer durch eine spektakuläre Spekulation auf einen Wertverfall des Humankapitals eines Dortmunder Sportunterhaltungsbetriebes zum Allgemeingut. Die fällige Distanzierung durch den Bundesverband der Wertpapierfirmen blieb freilich aus.
Qatar-Blockade, die: Pro-westliche Macht, die Frauen das Autofahren verbietet, blockiert kleinen Nachbarstaat, um die Schließung des freisten Senders der Region zu erpressen und einer anti-westlichen Macht zu schaden, die Frauen das Fahren von Autorennen verbietet. Keine Folgen, keine Pointe.
Russlandkontakt, der: politische Polemik aus dem Umfeld der US-Demokraten, die den ungeheuerlichen Verdacht bezeichnet, Großmächte könnten versuchen, durch Transitionsförderung, Zivilgesellschaftsdialoge, Waffenlieferungen oder gute alte Propaganda die Politlandschaft in anderen Großmächten zu beeinflussen. Weiter gefasst beschreibt der R. das bewährte Prinzip, den Überbringer der Botschaft statt deren Inhalt anzuprangern. So empfiehlt sich seine Logik allen politischen Verlierern, die offensiv wirken wollen, ohne sich mit ihrer Niederlage auseinanderzusetzen.
Selbstanzündung, die: von sachsen-anhaltinischen Strafverfolgern seit 2005 vertretene Theorie, ein sturzbetrunkener, gefesselter Mann könne mit bloßen Händen eine feuerfeste Matratze aufreißen und zu einem tödlichen Zellenbrand entzünden, der genug Hitze entwickelt, ihm die Finger wegzusengen. Nun wird diese Theorie auf ministerielle Weisung abermals geprüft, was immerhin ein Argument gegen eine Unabhängigkeit von Staatsanwälten darstellt.
Türkisierung, die: Megatrend im Demokratiegeschäft, der die Ersetzung von Parteien mit lästigen Flügelkämpfen und Basisfürsten durch Regierungsbewegungen beschreibt, in denen allein Loyalität zur Führung gefragt ist. Besonders fortgeschritten ist die Entwicklung in Macronistan sowie in Österreich, wo sich heuer die schwarze ÖVP ihrer austrofaschistischen Tradition besann und sich nicht nur in einen Akklamationsverein namens »Liste Sebastian Kurz« verwandeln, sondern auch noch türkis anstreichen ließ. Auch in Berlin sollen nun entsprechende Geheimverhandlungen stattfinden. Ziel sei eine schwarzgelbblaue Bahamas-Koalition unter Führung der »Schwarzen Liste Jens Spahn – die Konsequenten«.
Umbenennungen, die: symbolische Handlungen, die im politischen Raum zu Unrecht als nichtssagend verrufen sind. Wenn sich etwa ein rechtsradikaler Offizier als Flüchtling registrieren lässt, um mutmaßlich Gewaltakte unter falscher Flagge auszuführen und die anschließende Prüfung der Truppentraditionen statt der angekündigten Kasernennamensreform eine glatte Null ergibt, schon bevor jener Möchtegernterrorist wegen zu geringer Konkretion seiner Pläne auf freien Fuß gesetzt wird, dann ist das eine durchaus substanzielle Nachricht.
Volksabstimmung, die: Jahresendfrage an Radio Jerewan: Sind nicht eine V., bei der die Menschen beispielsweise über ihr weiteres Zusammen- oder Getrenntleben in Kurden- oder Katalanenstaaten befinden, eine hohe, zu respektierende Form der Demokratie? Antwort von Radio Jerewan: Im Prinzip ja. Es sei denn, sie sind verboten.
Weltmachthaberer, der: Er darf nicht fehlen in einer Jahresbilanz, auch in einer nicht-personalisierten: Er, der nicht nur eine unglaublich populäre Inaugurationsfeier und eine unerreichte Pfadfinder-Jahresansprache hinlegte, sondern auch unfassbar erfolgreiche Auslandsreisen mit ungezählten großartigen Deals. ER, von dem überhaupt zu sprechen daher nur in Steigerungsformen gestattet ist. Es sei ihm daher der Titel des W. angetragen, der seiner Größe nicht nur in Anlehnung an die deutsche Komparativendung gerecht zu werden versucht, sondern ihr zudem volkstümlichen Kolorit verleiht, bezeichnet doch »Haberer« im Süddeutschen den guten Kumpel, den väterlichen Freund und wohlwollenden Patron. In diesem Sinn: America first, »nd« second! Sollte die Stabsabteilung für Majestätsbeleidigung und Militärschläge ermitteln, dass demgegenüber »verhabert« meist pejorativ gemeint ist, ergeht hiermit Selbstanzeige: »nd« ist ein deutsches Bundesland, seine Hauptstadt heißt München.
XY/XX-Regime, das: System zur Geschlechtsklassifikation, das biologische Erkenntnisse aus dem frühen 20. Jahrhundert in das politische Dogma goss, es gebe nur Frauen, Männer und behandlungsbedürftige Missbildungen. Anders als Alice Weidel tönt, hat nun die Karlsruher Vorgabe, dieses Regime zu beenden und auch den letzteren ein Recht auf eine positive Geschlechtsbeschreibung zu gewähren, demnach gerade nichts mit »Genderpolitik« zu tun. Im Gegenteil entpolitisiert sie die biologische Tatsache, dass gar nicht so wenige Menschen weder mit einem XY- noch einem XX-Chromosomensatz zur Welt kommen und es darüber hinaus XX-Personen gibt, die männlich aussehen und umgekehrt XY-Frauen.
Ypsilon, das: drittseltenster Buchstabe der deutschen Sprache, der gebärdensprachlich durch das nach Mittelfinger und Facebookdaumen dritthäufigste Handzeichen dargestellt wird. Das erklärt sich dadurch, dass die Faust mit abgespreiztem Daumen und kleinen Finger zugleich für das »Shaka« der Jugendkultur steht, was so viel wie »Locker bleiben« bedeutet – und zudem leicht mit der sogenannten Teufelshand verwechselt werden kann. In diesem Sinn passt das Y aufs Jahr wie der Balken ins Auge.
Zuführungsservice, der: mutmaßlicher Szenejargon für jene Geheimdienst- oder Polizeimitarbeiter, die so oft so nah sind, wenn Terror geplant oder begangen wird. In einem an neuen NSU-Skandalen relativ armen Jahr rückt dabei der Berliner Weihnachtsmarktattentäter ins Bild. Hat, wie kürzlich von Verteidigern im Hildesheimer Dschihadistenprozess behauptet, ein LKA-V-Mann den Täter und andere angestachelt? Spielte nicht auch bei der Radikalisierung jener »Sauerlandgruppe« vor rund zehn Jahren ein – angeblich abgeschalteter – V-Mann eine Rolle? Bestärken Sicherheitsbehörden zornige junge Männer darin, die Grenze zur Tat zu überschreiten, um zu sehen, an wen sie sich dann wenden und sie spektakulär festnehmen zu können? Und was ist mit dem seltsamen Fall jenes Schlapphuts, der im Mai als Terror-Maulwurf festgenommen wurde, nachdem er einem verdeckten Verfassungsschützer einen Anschlag auf das Bundesamt quasi angeboten haben soll und der mit einem Jahr Bewährung davonkam? Hatten hier Provokateure unter sich gechattet, ohne voneinander zu wissen? Solche Fragen darf man stellen, wenn man sich nicht davor fürchtet, in gewissen Kreisen als Aluhut zu gelten.
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