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Die Gerechtigkeit des Siegers

»Und führe uns nicht in Versuchung«? Helge Meves hält die Neubearbeitung der Luther-Bibel für verfälschend und neoliberal

  • Helge Meves
  • Lesedauer: 3 Min.

In den vergangenen Wochen wurde darüber debattiert, ob im »Vater Unser« nun »und lasse uns nicht in Versuchung geraten« oder »und führe uns nicht in Versuchung« zu lesen sei. Letzteres ist die tradierte Übersetzung, die auch die Evangelische Kirche in Deutschland - pikanterweise gegen den modernisierungswilligen Papst - verteidigt hat. Die Differenz zwischen den Übersetzungen besteht darin, ob Gott in Versuchung führt oder ob der Mensch - etwa einer Intervention des Teufels wegen - in Versuchung geraten kann. Das führt hier und in dieser Zeitung zu weit. Allerdings wird bei einer anderen Bitte des »Vater Unser« gefragt werden, was mit »tradierter« Übersetzung gemeint ist.

»Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern«, heißt es in der revidierten Ausgabe der Luther-Bibel vom vergangenen Jahr. Die Änderungen darin an 15.700 Versen gingen meist auf Luthers Übersetzung zurück. In diesem Falle nicht. Luther übersetzte bis zur letzten von ihm revidierten Ausgabe 1545 »und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben«. Die strittige Frage lautet also: Sind in der Schrift ökonomische oder moralische Schulden gemeint?

Helge Meves
Helge Meves arbeitet im Bereich Strategie & Grundsatzfragen der Bundesgeschäftsstelle der LINKEN.

In der altgriechischen Fassung steht für Schulden opheiléma. In der lateinischen Vulgata wird sehr genau mit debitor übersetzt - dafür braucht man kein Wörterbuch. Im außerbiblischen Kontext meint der Begriff unzweifelhaft monetäre Schulden. Innerbiblisch nähern sich beide Bedeutungen an. Das sollte nicht wundern, weil die Frage ja eben ist, was Moral mit Ökonomie zu tun hat. Es muss also mit diesem philologischen Befund in die Sozialgeschichte geschaut werden.

Bereits in der antiken Gesellschaft waren nicht rückzahlbare Schulden eines der größten Probleme. Die Mächtigen sahen die Lösung in der Schuldsklaverei. War jemand soweit überschuldet, dass er die Schulden aus den laufenden Einnahmen absehbar nicht begleichen konnte, wurde er dem Gläubiger als Sklave zugesprochen. In vielen Gesellschaften wurden auch seine Frau und Kinder versklavt. Nach einigen Überlieferungen konnte der Schuldner in Stücke gehackt werden. Es geht hier wie auch bei verschuldeten Staaten heute um die totale Ausplünderung, in der Folge um endemische Gewalt, Mangelernährung, Hoffnungslosigkeit, zerstörte Leben und millionenfachen Tod. Gegen diese Lösung der Mächtigen gab es im Alten Testament einen Schuldenerlass für Bauern gesetzlich verpflichtend alle sieben Jahre im Sabbatjahr.

Im griechisch-römischen Schuldrecht wurde diese Regelung schlichtweg umgedreht. Nicht mehr der Erlass der Schulden, sondern deren Begleichung wurde zu einer Verpflichtung. Dagegen wandte sich das frühe Christentum und bekräftigte das Tora-Recht der Überschuldeten auf einen Schuldenerlass: »Gib dem, der dich bittet, und wende Dich nicht ab von dem, der etwas von Dir borgen will«, heißt es im neuen Testament, »und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen«. Luthers frühe Übersetzung nimmt die Forderung nach einem Schuldenerlass ins »Vater Unser« auf. Der erste deutsche Nationalökonom, wie ihn Karl Marx nannte, hatte hierbei das mächtige Kaufmannsgeschlecht der Fugger im Blick, wie heutige Forderungen nach einem Schuldenerlass als Gegner den modernen Finanzkapitalismus haben. Die Neubearbeitung verbirgt etwas, was Luther noch gesehen hatte: Schulden begleichen zu müssen, ist die Gerechtigkeit des Siegers - und die verfälschende Neubearbeitung darf insofern mit guten Gründen neoliberal genannt werden.

Freilich hält die Bibel weder autoritative noch überzeitliche Argumente bereit. Allerdings macht sie mit der Verteidigung des Schuldenerlasses zweierlei deutlich: Ein Schuldenerlass ist nicht wolkenkuckucksheim-utopisch, sondern war jahrhundertelang eine bewährte Praxis. Und die Frage des Schuldenerlasses ist nicht eine Frage der Religion, sondern der Macht.

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