Ost-Metaller wollen West-Arbeitszeit

500 VW-Mitarbeiter bei Warnstreik im Motorenwerk Chemnitz

  • Hendrik Lasch, Chemnitz
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Laden brummt. 800.000 Motoren sind im vergangenen Jahr im VW-Motorenwerk in Chemnitz vom Band gelaufen. Sie werden in ganz Europa im Golf, im Polo und dem Kleinwagen »Up« eingebaut. In diesem Jahr sollen sogar 816.000 Motoren produziert werden. So sieht es ein im Konzern vereinbarter Zukunftspakt vor. Dass dafür auch mehr Leute eingestellt werden, ist freilich nicht geplant. Dabei hat die Belegschaft schon bisher »an der Schmerzgrenze« gerackert, sagt Jörg Treuheit, Chef des Vertrauensleute-Gremiums in dem Chemnitzer Betrieb. Die 1700 Beschäftigten seien an Wochenenden im Werk gewesen, hätten Überstunden geleistet und sich auch sonst höchst flexibel gezeigt. Jetzt, sagt Treuheit, »erwarten wir Flexibilität auch mal von der anderen Seite«.

Treuheit steht auf der Pritsche eines Lastwagens am Chemnitzer Werkstor, vor sich 500 Arbeiter im Blaumann, die zuvor in einem breiten Marschzug den Fotografen entgegen gezogen sind, sich mit roten Schals der IG Metall ausgerüstet haben und die Worte des Vertrauensmanns mit Trillerpfeifen kommentieren. Einige tragen Westen mit dem Aufdruck »Warnstreik«. In der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie wird es nunmehr ernst: Bundesweit wurde in ersten Betrieben die Arbeit niedergelegt. Ein Plakat in Chemnitz gibt den Grundton vor. »Wir lassen es krachen, wir lassen es knallen«, steht da: »Gleiche Arbeitszeit bei allen«.

Die Arbeitszeit ist neben einem Lohnplus von sechs Prozent das zentrale Thema der Verhandlungen. Allerdings geht es bundesweit vordergründig nicht um eine Angleichung der Stundenzahl, sondern im Gegenteil um Wahlmöglichkeiten. Die Beschäftigten sollen nach dem Willen der IG Metall ihre Arbeitszeit befristet für zwei Jahre auf bis zu 28 Stunden absenken können, wenn sie das wegen ihrer familiären Situation wünschen. Es müsse »Flexibilität auch mal zu unseren Gunsten geben«, sagt Mario John, der 1. Bevollmächtigte der IG Metall in Chemnitz, vor den Motorenwerkern.

In dem sächsischen Betrieb hält man derlei Forderungen für »absolut gerechtfertigt«, sagt René Utoff, Chef des Betriebsrates. Man hält sie auch für durchsetzbar. Die Lage des Konzerns, der Branche und der Wirtschaft insgesamt sei gut, sagt Utoff. Prognosen gingen für 2018 von einem Wachstum von bis zu 2,4 Prozent aus; die »Sockelarbeitslosigkeit« liege bei 6,2 Prozent. Es ist eine Situation, die den Beschäftigten in die Hände spielt. »Die Zeit ist günstiger denn je«, sagt Utoff und fügt hinzu: »Wir stehen hier sehr selbstbewusst.«

Als günstig empfindet man die Lage indes auch für eine spezifisch ostdeutsche Forderung in den Verhandlungen - der auf dem Plakat geforderten »gleichen Arbeitszeit bei allen«. Bisher arbeiten die VW-Beschäftigten in Chemnitz wie auch andere Metaller im Osten jede Woche drei Stunden länger als ihre Kollegen im Westen. Das soll ein Ende haben. Streiken dürften sie für die Verkürzung zwar noch nicht: Für diesen Teil des Tarifvertrags besteht bis Ende Juni eine Bindefrist. Durchgesetzt werden soll aber, dass die Arbeitgeber sich zu Verhandlungen darüber verpflichten.

Für diesen Kampf rechnen die Ost-Metaller auch mit Rückhalt aus dem Westen. Schon aus »Eigeninteresse«, wie der Bevollmächtigte Mario John erklärt, denn damit würden die Wettbewerbsbedingungen angeglichen.

Das Thema ist nicht ohne Brisanz. Frühere Versuche der Gewerkschaft, die 35-Stunden-Woche im Osten mit Streiks durchzusetzen, waren im Sommer 2003 krachend gescheitert - nicht zuletzt am fehlenden Rückhalt der eigenen Basis. Vielen Beschäftigten war angesichts damals hoher Arbeitslosigkeit der sichere Job wichtiger als eine kürzere Arbeitswoche.

Inzwischen hat sich das geändert; verbreitet herrscht Fachkräftemangel. Eine Reduzierung um drei Stunden würde es zulassen, Kräfte zehrende Schichtsysteme verträglicher zu gestalten, sagt John. Und nicht zuletzt geht es auch ums Prinzip, fügt Vertrauensmann Treuheit hinzu: »Nach fast 30 Jahren erwarten die Leute jetzt endlich Gerechtigkeit.«

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