Schrittweise beschleunigt
Rüdiger Bergien untersuchte Organisationskultur und Herrschaftspraxis in der SED-Zentrale
Erstmals wird detailliert die Geschichte der hauptamtlichen Mitarbeiter des Zentralkomitees der SED untersucht. Die Studie von Rüdiger Bergien wurde von der Humboldt-Universität als Habilitationsschrift angenommen und mit Unterstützung der »Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« in der Reihe des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam publiziert. Die Untersuchung basiert vorwiegend auf Archivquellen, hinzu kommen 29 Zeitzeugeninterviews. Zehn Tabellen und acht Grafiken vermitteln eine gute Übersicht über die zahlenmäßige Entwicklung des Apparates und dessen soziale Gliederung, seine Finanzierung und die Einkommensentwicklung der Mitarbeiter.
1946 verfügte der politische Apparat die gerade aus dem Zusammenschluss von KPD und SPD hervorgegangene Partei über 160 Mitarbeiter. Dieser erhöhte sich bis 1950 auf 320. Der Frauenanteil bewegte sich zwischen anfangs 14,9 Prozent und später 13,4. Frauen bekleideten im Regelfall keine Leitungsfunktionen. Der Altersschnitt betrug 1946 noch 42,5 Jahre. Sekretärinnen verdienten anfangs 500 Reichsmark (RM), politische Mitarbeiter 600 RM. Man vermisst hier einen Verweis darauf, dass 1946 bis 1948 noch »Block-Demokratie« (Manfred Bogisch) herrschte. Die SED stand in den Landtagen einer Mehrheit von Abgeordneten der bürgerlichen Parteien CDU und LDPD gegenüber. Erst nach der Krise 1948 versuchte die SED, für sich eine »führende Rolle« zu reklamieren, wozu ihr die neu gegründeten Parteien DBD und NDPD schrittweise verhalfen.
Bergien meint, dass die 2. Parteikonferenz im Juli 1952 entschied, die »Grundlagen des Sozialismus in beschleunigtem Tempo zu schaffen«. Das ist ungenau. Die Beschleunigung beschloss erst die 10. Tagung des ZK im November 1952. Für den V. Parteitag durften die anderen Parteien ihre eigenen Vorschläge einreichen, was die CDU und LDPD vor allem für den Ausbau des Sektors der privaten Betriebe mit staatlicher Beteiligung nutzten. Bergien ermittelte, dass die Zahl der politischen Mitarbeiter zwischen Frühjahr 1950 bis Anfang 1960 auf 844, das heißt um 163 Prozent anstieg. Erst jetzt kam es, worauf Bergien nicht nachdrücklich eingeht, im Zeichen der zweiten Berlin-Krise zu einschneidenden Beschlüssen, die als weitere Qualifizierung des Staatsapparates deklariert wurden.
In weitgehend übereinstimmenden Beschlüssen des SED-Politbüros vom 12. Juli 1960 und des Ministerrats vom 14. Juli wurde festgelegt, dass die Staatsorgane die Beschlüsse der SED auszuführen hätten. Der politische und technische Apparat des ZK stieg bis 1970 auf 1770 Mitarbeiter an. Bezogen auf den Staatsapparat entwickelte die SED seitdem eine ungesunde Parallelstruktur. Hatte der Altersschnitt bis 1959 bei 40 Jahren gelegen so erhöhte er sich bis 1970 auf 45 Jahre. Nach 1971 habe sich Honeckers gestalterischer Anspruch in Bezug auf den Apparat darauf beschränkt, den Status quo zu erhalten. Vorstellungen von einem kleineren, durchsetzungsfähigeren, aktivistischeren Apparat, die Ulbricht 1957 und auch später immer beschäftigt hatten, entwickelte er nicht. In der Honecker-Ära kam es dafür zu einer signifikanten Einkommenserhöhung, ein politischer Mitarbeiter hatte im Schnitt 1600 und ein ZK-Abteilungsleiter 3000 Mark.
Sachlich und fair geht Bergien auf die Vorwürfe von Amts- und Privilegienmissbrauch in der finalen Krise ein. Was er über die Fälle Ernst Altenkirch, Günter Glende und Karl Seidel mitzuteilen weiß, ist erkenntnisfördernd. Dass es von 1965 bis 1970 zwischen Ulbricht an der Spitze des Politbüros und Honecker an der Spitze des Sekretariats manche Widersprüche gab, bleibt allerdings unerwähnt. Es fällt auch auf, dass Bergien in der Rubrik »Gedruckte Quellen« auf die Auswertung der Protokolle der SED-Parteitage verzichtete. Die Passage über die ökonomische Hauptaufgabe des V. Parteitags wird aus der Darstellung eines Mannheimer Historikers zitiert. In der Rubrik »Memoiren und Erinnerungsberichte« fehlen die Titel der Politbüromitglieder Günter Mittag und Alfred Neumann sowie des stellvertretenden Sektorleiters Gregor Schirmer. Im Falle einer zweiten Auflage sollte auch die irrtümliche Verortung des Newski- Prospekts in Moskau korrigiert werden.
Rüdiger Bergien: Im »Generalstab der Partei«. Organisationskultur und Herrschaftspraxis in der SED-Zentrale (1946 - 1989). Ch. Links, 584 S., br., 50 €.
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