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Wie Martin Schulz die Basis überzeugen will
Der SPD-Chef hat seine Werbetour für die Fortsetzung der Großen Koalition in Nordrhein-Westfalen begonnen
Bislang waren Besuche in Nordrhein-Westfalen Heimspiele für Martin Schulz. Der SPD-Chef ist Rheinländer. Er schämt sich nicht, den einheimischen Dialekt zu sprechen und ist im Westen der Republik gut vernetzt. Viele Sozialdemokraten aus der Parteibasis sehen den gelernten Buchhändler als einen der ihren.
Doch in NRW ist man mittlerweile ernüchtert. In den Sondierungsgesprächen mit der Union hat das Team der SPD zahlreiche Forderungen der Partei gestrichen und strebt trotzdem Koalitionsverhandlungen mit den Konservativen an. Darüber soll am Sonntag ein Bundesparteitag in Bonn abstimmen. Dem NRW-Landesverband kommt hierbei eine große Bedeutung zu. Denn er stellt 144 von insgesamt 600 Delegierten. Das sind mit Abstand die meisten von allen Landesverbänden.
Güstrow. Die Jungsozialisten in Mecklenburg-Vorpommern haben für Freitag (16.30 Uhr) in Güstrow zu einer Demonstration gegen eine neue Große Koalition in Berlin aufgerufen.
Das Sondierungspapier von Union und SPD sei mehrheitlich nur ein »Sammelsurium aus unkonkreten Willensbekundungen, Prüfaufträgen und ideenlosen Textbausteinen, das nicht einmal im Ansatz hervorragend ist«, sagte Juso-Landeschef Christian Winter am Dienstag. Die Vereinbarung sei sogar noch schlechter als 2013 bei der jüngsten Vereinbarung zur Großen Koalition. »2013 konnte man noch eine sozialdemokratische Linie sowie einen Gestaltungswillen erkennen«, sagte der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation.
Direkt im Anschluss an die Demonstration kommen um 17.30 Uhr im Bürgerhaus in Güstrow der Parteivorstand und -rat, Abgeordnete und Ortsvorsitzende zu einer Beratung über die Sondierung zusammen. dpa/nd
Am Montagabend war Schulz nach Dortmund gereist, um dort seine Genossen von der Fortsetzung der Großen Koalition zu überzeugen. Seine Bilanz fiel nach dem Treffen durchwachsen aus. »Es war ein sehr offener und sehr konstruktiver Meinungsaustausch«, sagte Schulz. Es sei »viel Nachdenklichkeit« ausgelöst worden. Am Dienstagabend wollte sich Schulz mit Delegierten aus dem Rheinland treffen.
Wie sich die Delegierten aus dem westlichen Bundesland mehrheitlich entscheiden werden, ist völlig offen. NRW-Landeschef Michael Groschek erklärte in einem Radiointerview mit dem Sender WDR 2: »Wir haben Mitglieder, die sagen Ja, und welche, die sagen Nein, und dazwischen ist ein großer Teil von nachdenklichen Unentschlossenen.« Diese Gruppe wollen Groschek, Schulz und ihre Mitstreiter noch bearbeiten. Das wird nicht einfach. Denn nicht nur die Jusos, sondern auch einige Abgeordnete und Funktionäre lehnen das schwarz-rote Sondierungspapier ab.
»Nach dem katastrophalen SPD-Abschneiden bei der Bundestagswahl darf und kann es kein ›weiter so‹ geben. Die Ergebnisse der Gespräche reichen nicht aus, um endlich eine Politik einer sozialen und ökologischen Wende in Deutschland und Europa durchzusetzen«, erklärte der Europaabgeordnete Dietmar Köster, der auch Mitglied im nordrhein-westfälischen SPD-Landesvorstand ist. Köster wies darauf hin, dass eine vertiefte Integration der EU, die auf Solidarität und Humanität beruhe, mit der CSU nicht möglich sei. »Sie steht für Abschottung und eine Rückkehr nationalistischen Gedankengutes«, erklärte der Sozialdemokrat.
Die NRW-SPD verzichtete anders als andere Landesverbände darauf, einen Vorstandsbeschluss zur Zukunft des schwarz-roten Bündnisses zu fassen. Ein solcher Beschluss ist für die Delegierten nicht bindend. Es handelt sich lediglich um eine Empfehlung. Die Spitze des zweitwichtigsten Landesverbandes Niedersachsen hatte sich mehrheitlich dafür ausgesprochen, den Bundesvorstand der SPD zu unterstützen. Auch der Vorstand der SPD-Fraktion im bayerischen Landtag votierte am Dienstag mit Ja. Im Osten gibt es sowohl Landesverbände, welche die Große Koalition unterstützen wollen als auch solche, die Schwarz-Rot ablehnen.
Zwischen seinen Terminen in Nordrhein-Westfalen beantwortete Schulz am Dienstagmittag per Livestream im Internet eine halbe Stunde lang Fragen zur Regierungsbildung und zur Zukunft der SPD, die ihm von Nutzern des sozialen Netzwerks Facebook gestellt wurden. Der SPD-Chef zählte eine Reihe vermeintlicher Erfolge wie die angestrebte Stabilisierung des niedrigen Rentenniveaus von 48 Prozent und die Einführung einer »Grundrente« auf. »Wir haben eine Menge erreicht und werden das Leben der Menschen konkret verbessern«, frohlockte Schulz.
Auf die Frage, wie die Sozialdemokraten sich zu einer glaubhaften Alternative zur CDU von Kanzlerin Angela Merkel entwickeln könnten, antwortete Schulz, dass er hoffe, die SPD werde zum Ende der laufenden Legislaturperiode eine »erneuerte Partei« sein.
Ins Schwärmen geriet Schulz beim Thema Europäische Union. Die Sozialdemokraten sollten sich an die Spitze einer proeuropäischen Bewegung stellen, erklärte er. Die Vereinbarung mit der Union bedeute aus seiner Sicht »eine fundamentale Änderung der EU-Politik«. Insbesondere lobte Schulz, dass man sich auf mehr Investitionen in der Europäischen Union geeinigt habe. Ebenso wie der französische Präsident Emmanuel Macron wünschte sich Schulz zudem einen »europäischen Finanzminister«. Dieser ist im schwarz-roten Papier allerdings nicht vorgesehen.
Der SPD-Chef räumte ein, dass er und seine Genossen nicht alles durchsetzen konnten. Es fehlten etwa die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes. »Dafür entlasten wir untere und mittlere Einkommen durch die Abschaffung des Solidaritätszuschlages für etwa 90 Prozent aller Zahler«, sagte Schulz. Dass Menschen mit niedrigen Einkommen keinen Soli oder nur einen sehr geringen Betrag zahlen müssen, sagte der Sozialdemokrat nicht. In Wirklichkeit begünstigt die schrittweise Abschaffung des Soli in erster Linie die Besserverdienenden.
Auf kritische Fragen zur Flüchtlingspolitik ging Schulz nicht ein. Ein Facebooknutzer schrieb, dass er ein Arzt aus Syrien sei und hierzulande nur subsidiären Schutz erhalten habe. Nun könne er wegen der Aussetzung des Familiennachzugs seine kranke Frau nicht aus Syrien nach Deutschland holen. Das Papier von Union und SPD sieht vor, den Nachzug zunächst weiterhin auszusetzen und ihn später eingeschränkt für 1000 Menschen im Monat zu ermöglichen.
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