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»Wir brauchen mehr positive Diskriminierung«
Der Pädagoge und Bildungsforscher Hans Brügelmann über die Notwendigkeit von Bildungsreformen abseits der Verhandlungen zur Regierungsbildung
Herr Brügelmann, gemeinsam mit einigen Kolleginnen und Kollegen haben Sie Ende 2017 die Initiative »Bildungsgerechtigkeit: Die Zeit drängt!« ins Leben gerufen. In Ihrer Petition stellen Sie u.a. fest, dass das Ziel der Bildungsgerechtigkeit in immer weitere Ferne rücke. Viele Bundesländer haben in den zurückliegenden Jahren allerdings Schritte gegen die soziale Spaltung unternommen, so wurde beispielsweise fast überall die Hauptschule abgeschafft und das längere gemeinsame Lernen eingeführt. Reicht Ihnen das nicht aus?
Die beschriebenen Reformen sind ja nur in Ansätzen verwirklicht und diese reichen bei weitem nicht aus. In den Städten können wir zum Beispiel beobachten, dass sich die Wohnbezirke sozial entmischen und dass es dadurch in den Grundschulen immer mehr sozial homogene Klassen gibt. In Bremen etwa haben wir Schulen mit 80 Prozent und mehr Kindern aus Armutsfamilien, darunter viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Andererseits gibt es Viertel, in denen man kaum ein Kind findet, das eine andere Muttersprache als Deutsch spricht.
Und das schafft mehr Bildungsungleichheit?
Ja. Wenn man berücksichtigt, dass Bildung ein Prozess ist, der in der Familie beginnt und der auch später wesentlich davon beeinflusst wird, welche Freunde man hat, welche Freizeit- und Lernaktivitäten von den Eltern angeboten werden, dann findet heute schon in der frühen Kindheit ein sozialer Selektionsprozess statt. Kinder aus akademisch gebildeten Mittelschichtfamilien haben mehr Bücher, gehen häufiger in ein Konzert oder ins Museum als Gleichaltrige aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern. Sozial homogene Grundschulen verstärken diese Segregationsprozesse noch. In Grundschulen mit einem hohen Anteil von Schülern aus sozial bessergestellten Familien sind die Eltern aktiver, gibt es mehr kulturelle und andere Förderangebote. Und Sponsoren dafür zu gewinnen fällt einem Rechtsanwalt in einem Vorort mit gut situierter Wohnbevölkerung viel leichter als einer arbeitslosen, alleinerziehenden Mutter in einem sozialen Brennpunkt.
Jetzt ist dieser Befund nicht neu. Schon in der ersten PISA-Studie 2001 wurde darauf hingewiesen, dass das deutsche Bildungssystem soziale Ungleichheit manifestiert, ja noch verstärkt. Seitdem gab es zahlreiche Reformen. Warum bringen die nicht die versprochenen Erfolge?
Weil sie das Übel nicht an der Wurzel packen. Die politischen Entscheider stammen in der Regel aus akademisch gebildeten und sozial höhergestellten Schichten. Wenn man in den Parlamenten nur noch unter Seinesgleichen ist, verliert man leicht den Blick für die Realität außerhalb der eigenen sozialen Schicht. Das spiegelt sich auch in den Grundschulen wider. Beispielsweise werden die Elternvertretungen von Männern und Frauen mit akademischem Hintergrund dominiert. Obwohl solche Elternvertreter eigentlich die Interessen der ganzen Klasse im Blick haben sollten, sind viele auf das Wohlergehen und Vorankommen der eigenen Kinder fixiert.
Im Aufruf wird kritisiert, dass schon beim Schuleintritt die Entwicklungsunterschiede bei den Kindern mehrere Jahre betragen und sich diese Differenz in der Grundschule noch vergrößert. Konservative Bildungspolitiker begründen diese Unterschiede mit der unterschiedlichen Unterrichtsqualität.
Dieses Argument wird durch Wiederholung nicht wahrer. Aus Bayern etwa hören Grundschullehrer in Bremen immer wieder den gleichen Vorwurf: Sie würden nicht mehr genug mit ihren Schülerinnen und Schülern üben. Üben allein hilft aber nicht, wenn die Lebensprobleme der Kinder den Schulalltag bestimmen. Ich gehöre einer Generation an, die die großen bildungspolitischen Anstrengungen in den USA und dann auch die Versuche in Europa um 1970 erlebt hat. Damals lautete der Auftrag des demokratischen Gemeinwesens an die Schule, mit Hilfe der sogenannten kompensatorischen Erziehung und Bildung soziale Unterschiede auszugleichen und den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. In der Praxis hieß das, dass Schulen mit hohem Bedarf an Unterstützung auch mehr Geld und Personal erhielten. Heute haben wir eine Gießkannenfinanzierung, bei der alle das Gleiche erhalten und so dem Schein nach gleiche Voraussetzungen geschaffen werden. Was wir brauchen ist eine Wiederbelebung der Idee der positiven Diskriminierung.
Was ist damit gemeint?
Kurz gesagt: Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Familien erhalten mehr staatliche Unterstützung als andere Schulen.
Wie kann man sich das praktisch vorstellen?
Einige Bundesländer wie Hamburg oder Bremen sind dazu übergegangen, den Schulen zusätzliches Personal und andere Ressourcen anhand der Sozialindikatoren eines Stadtteils zuzuteilen. Dabei müssen sie gegen Widerstände kämpfen, denn in der Praxis kann das bedeuten, dass eine Schule in einem sozialen Brennpunkt mehr Lehrkräfte erhält, um dort beispielsweise die Klassenstärke unter 20 zu senken, und dass sich dafür die Klassenfrequenz in einem Villenvorort entsprechend erhöht. Aber die Politik wird sich zu solchen, für bestimmte Wählerschichten unpopulären Entscheidungen durchringen müssen; wenn die Ressourcen knapp sind, müssen sie dort eingesetzt werden, wo sie besonders gebraucht werden!
Wie soll diese »positive Diskriminierung« den sozial Bessergestellten schmackhaft gemacht werden?
Indem man ihnen klar macht, dass auch ihre Kinder und sie selbst davon profitieren. Viele dieser Eltern gehen davon aus, dass sie sich nur nachdrücklich genug für ihre eigenen Kinder einsetzen müssen, damit diese gute Abschlüsse hinkriegen. Doch was nützt es diesen Kindern, wenn sie durch die Wahl des namhaften Gymnasiums auf der Statusleiter nach oben klettern - zumindest den sozialen Status der Eltern erreichen -, aber gleichzeitig in der Gesellschaft durch die verschärfte Ungleichheit die sozialen Konflikte zunehmen? Man lebt sicherer und friedlicher, wenn es allen einigermaßen gut geht! Und auch die Wirtschaftskraft unserer Gesellschaft hängt von einer hohen Kompetenz in der Breite ab.
Um Ihren Ideen Nachdruck zu verleihen, haben Sie in einem mittlerweile von Hunderten von Lehrern, Schulleitern, Professoren, Unternehmern und Politikern aus allen Bundesländern unterzeichneten Brief die Bildung eines unabhängigen Bildungsrates gefordert. Was soll dieser Bildungsrat erreichen und wer soll in diesem Gremium mitarbeiten?
Die Einrichtung eines Bildungsrates ist in der bundesdeutschen Geschichte nichts Neues. Bereits Ende der 1960er Jahre gab es ein solches Gremium. Die Mitglieder dieses Bildungsrates wurden damals vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesländer und des Bundes berufen, wobei man versucht hat, eben nicht nur Wissenschaftler, sondern zum Beispiel auch Unternehmer und Gewerkschafter mit einzubinden. Damals hatte sich eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die Bildungsexpansion, also die bessere Ausbildung aller jungen Menschen, auf die Fahnen geschrieben. Es ging aber auch um den sozialen Aufstieg durch Bildung.
Auch damals gab es von Seiten der Konservativen Widerstände. Bundesländer wie Bayern oder Baden-Württemberg stemmten sich gegen die Gesamtschule. Was soll ein solcher Bildungsrat, der ja bundesweit organisiert sein müsste, heute besser machen?
Ich sehe keine Alternative. Wir brauchen einen Pakt der Gutwilligen. Ein solcher Bildungsrat kann aber auch nur wirksam werden, wenn das Kooperationsverbot im Schulbereich aufgehoben wird und Schulbildung nicht länger ausschließlich Länderangelegenheit bleibt. »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« ist eine zentrale Forderung unserer Petition - und des Grundgesetzes!
Die Petition kann hier unterzeichnet werden.
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