»Denk ich an Deutschland …«

Warum sich in einem lebenswerten Land viele Menschen nicht wohlfühlen

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 9 Min.

Seit Jahr und Tag läuft am Sonntagmorgen im Deutschlandfunk die Sendereihe »Denk ich an Deutschland …«. Hier geben mehr oder weniger prominente Leute - vorwiegend mit bundesdeutscher, zunehmend jedoch auch mit ausländischer Sozialisation - Auskunft, was ihnen bei mehr oder weniger gründlichem Nachdenken zu dieser Frage in den Sinn kommt. Der Anklang an das Gedicht »Nachtgedanken« stellt sich bei allen ein, die mit Heinrich Heines Lyrik noch vertraut sind: »Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, / dann bin ich um den Schlaf gebracht, / ich kann nicht mehr die Augen schließen. / Und meine heißen Tränen fließen.«

»Um den Schlaf gebracht«, wie es Heine widerfuhr, hat es die Befragten des Deutschlandfunks bislang nicht. Ein Krimiautor aus dem Allgäu ergänzte das »Denk ich an Deutschland« mit »kann ich gut schlafen«.

Tatsächlich - Deutschland ist ein schönes, geradezu gesegnetes Land. Mit einer vom Meer bis ins Hochgebirge sich erstreckenden vielfältigen Landschaft, nicht bedroht von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, selten von Orkanen, verheerenden Dürren, Sturmfluten und unbeherrschbaren Überschwemmungen. Das ist kein Verdienst der Deutschen und kein Grund für rechtslastige Heimattümelei. Deutschland ist ein Land mit einer reichen Kultur und weltweit anerkannten wissenschaftlichen Leistungen, mit überwiegend arbeitsamen ordnungsliebenden Menschen. Es verfügt über ein hohes wirtschaftliches Leistungsvermögen, zu dem Zugewanderte und nach Deutschland Geflüchtete Erhebliches beigetragen haben.

Auf den Deutschen lastet eine äußerst widersprüchliche Geschichte, die - mehr als in anderen Ländern - in politisch-historischen Auseinandersetzungen thematisiert wird. Das geschieht oft mit einer nicht zu akzeptierenden Tendenz, aber dennoch könnten sich viele Staaten daran ein Beispiel nehmen, zumal auf diesem Feld nicht nur die institutionalisierte Geschichtsschreibung, sondern auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Einrichtungen aktiv, Literatur und Kunst engagiert sind.

Deutschland wird in der Welt mit Bewunderung wie auch mit Besorgnis wahrgenommen. Nicht ohne Misstrauen und Befürchtungen wird die zunehmende Dominanz des Exportweltmeisters in Politik und Wirtschaft registriert, der sich andere Staaten zu beugen haben. Gewiss, Deutschland ist ein Land, in dem sich leben lässt und das andere Menschen anzieht. Nicht ohne Grund ist Deutschland ein Sehnsuchtsort der Ärmsten und Geschundensten dieser Welt. Es ist indes eine Legende, deutscher Wohlstand sei ausschließlich das Ergebnis deutscher Erfindungsgabe, deutscher Tüchtigkeit und deutscher Disziplin. Maßgeblich beruht er auf unfairem Handel, auf Ausbeutung der Arbeiterbevölkerung unterentwickelter Länder und auf Ausplünderung fremder Rohstoffquellen. Und überhaupt - kann das mehrheitliche materielle Wohlbefinden der absolute Maßstab sein? Darf uns das davon abhalten, Missstände aufzudecken, vertane Möglichkeiten offenzulegen und über ein besseres Deutschland nachzudenken?

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»Für die Ostdeutschen änderte sich« - nach der Aussage einer Thüringerin - »alles außer der Uhrzeit und den Jahreszeiten, für die Westdeutschen sollte sich gar nichts ändern.« Das ist langfristig gesehen eine erklärliche, dennoch oberflächliche Beobachtung. Denn auch die Westdeutschen bekamen - wenngleich mit einer Phasenverschiebung - die Folgen der Anschlusspolitik zu spüren. Sie hatte die Kosten des ruinösen Umgangs mit der ostdeutschen Wirtschaft mitzutragen. Auch viele von ihnen begannen unter den Folgen des Vormarsches eines nicht mehr gezähmten neoliberalistischen Turbokapitalismus und einer militarisierten Außenpolitik zu leiden. Die widersprüchlichen Wirkungen der Globalisierung und die vor allem mit der Digitalisierung verbundenen Modernisierungsprozesse potenzierten all diese Tendenzen. So wurden die Deutschen in Ost und West mit einem für sie völlig ungewohnten, sich neu formierenden Parteiensystem und dem diesem zugrunde liegenden veränderten politischen Kräfteverhältnis konfrontiert. So manche vernachlässigten Wohnviertel westdeutscher Städte weisen die gleichen Verfallserscheinungen auf, wie sie uns ansonsten stets als DDR-typisch vorgeführt werden. Die so ausgelöste Proteststimmung ist anfangs vor allem den Linken zugute gekommen. Nun saugt auch die Alternative für Deutschland daraus politischen Honig. Aber das sozialökonomische Abgehängtsein größerer Teile der Bevölkerung allein reicht nicht aus, um den Aufstieg der AfD zu erklären.

Die soziale Spaltung der deutschen Gesellschaft ist seit den 1990er Jahren tiefer geworden. Es findet eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in Arme und Reiche statt. Das ist ein gesamtdeutsches Problem, tritt aber im Osten verschärft in Erscheinung als Einkommensrückstand, geringere Vermögensausstattung, höhere Arbeitslosenquoten, längere Arbeitszeiten und verfestigte Armut. Am meisten betroffen sind Frauen, die sich infolgedessen auch distanzierter zur deutschen Einheit verhalten als die Männer.

Aber Vorsicht - die abgehängten Regionen und Personen gibt es in allen Staaten Europas, lassen sich nicht einseitig als Folgen falscher Weichenstellungen im Anschlussprozess erklären. Deutschland hätte im Unterschied zu anderen Ländern allerdings die Chance gehabt, kurz anzuhalten und über Plus und Minus in beiden deutschen Staaten nachzudenken. Statt bloßer Übernahme bundesdeutscher Verhältnisse und Gesetze wäre zu überlegen gewesen, wie man beiderseitigen Reformstau abbauen und in Neuland vorstoßen könne.

Stefan Bollinger geht so weit, dass er statt Vereinigung »eine neoliberale und hegemoniale Neugründung Deutschlands« konstatiert, einen »radikalen Wandel des Kapitalismus hin zu seiner Kenntlichkeit. Nicht mehr ›soziale Marktwirtschaft‹, sondern Eigenverantwortung der Individuen, Rückzug des Staates, Sozialabbau.« Den gezähmten, reformfähigen, friedensfähigen Kapitalismus gab es nur, solange Gegenkräfte am Werke waren - von außen das staatssozialistische Gegenüber und im Inneren einflussreiche Gewerkschaften und die Aufbruchbewegung der 68er. Diese Gegenkräfte sind entfallen. Mithin gibt es »eine Diktatur des Kapitals, die sich nicht um nationale Parlamente schert, die die Grundsatzentscheidungen in die Hinterzimmer von Bürokraten und Lobbyisten verlagert.« Auf dieser Basis lassen sich die existenziellen Probleme und Bedrohungen der Menschheit nicht lösen ...

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Die tiefgreifenden Veränderungen des Anschlussprozesses mussten sich unterschiedlich auswirken und wurden verschieden wahrgenommen. Allein schon die abweichenden Generationserfahrungen bedingten spezifische Einstellungen zu Wende und Anschluss. Wie immer zu Zeiten gesellschaftspolitischer Umbrüche gab es Gewinner und Verlierer. Die Vorkämpfer eines Wandels fanden sich nicht unbedingt bei den Gewinnern wieder, und die Verfechter der alten Ordnung oder die Gleichgültigen nicht unbedingt bei den Verlierern. Insofern wohnt dem geplanten Einheitsdenkmal in Form einer wippenden Schale eine so nicht vorgesehene Symbolik inne: Die Minderheit steigt auf, die Mehrheit sinkt herab ...

Inzwischen haben zahlreiche Meinungsbefragungen belegt, dass die realen und mentalen Unterschiede zwischen Alt-Bundesbürgern und Neu-Bundesbürgern langlebig sind. Im Umkehrschluss bedeutet das, die DDR hat eine tiefere historische und ambivalente Spur gezogen, als ihr die meisten DDR-Erklärer zubilligen wollen. Noch heute prägen soziale Errungenschaften der DDR Erwartungshaltungen der Ostdeutschen ...

Worum es letztlich geht oder zumindest gehen sollte, das ist die Lebensqualität. Diese wiederum hat damit zu tun, was das Individuum oder der Staatsbürger von seinem Leben erwartet, und auch, was ihm von einer extensiv betriebenen Werbung und von politischer Einflussnahme als lebenswert eingetrichtert wird. Wer den Zugewinn an bürgerlichen Freiheiten, an Mobilität, an Konsummöglichkeiten und an Dienstleistungen, an Wohnkomfort, an moderner Kommunikation, an Reisemöglichkeiten in andere Ländern, an Gesundheitsversorgung durch Gerätemedizin und Pharmakologie hoch schätzt und sich all das finanziell einigermaßen leisten kann, wird beträchtliche Zugewinne verbuchen. Auch wer es für unverzichtbar hält, seinen Individualismus auszuleben, der sich nicht selten als Egoismus oder Egozentrismus entpuppt. Aber wer eine gesicherte und planbare Existenz als Grundlage seiner persönlichen Entfaltung, seiner Partnerbeziehungen und seiner Nachkommenschaft betrachtet, wird das anders sehen. Auch diejenigen, für die der kollegiale Zusammenhalt im Arbeitskollektiv und bei gemeinsamer Freizeitgestaltung zu einem erfüllten Leben gehören, werden Wesentliches schmerzlich vermissen. Für viele vereinbart es sich nicht mit Lebensqualität, permanent darüber nachzudenken, ob sie ihren Stromanbieter, ihre Krankenkasse, ihre Versicherung wechseln oder ihre bescheidenen Ersparnisse auf ein anderes Finanzinstitut umlagern sollten. Das kann die Flimmerwelt der Konsum- und Spaßgesellschaft nicht aufwiegen. Psychologen und Psychotherapeuten verweisen denn auch auf krankmachende Langzeitfolgen nicht verarbeiteter Wendeerfahrungen.

Gemeinden, die zu DDR-Zeiten über eine Schule, einen Kindergarten, eine Bibliothek, einen Kulturraum, eine Gaststätte, eine Konsumverkaufsstelle, eine Post und eine Gemeindeschwester verfügten, wo alle Arbeit hatten und die Geburtenzahlen stiegen, kulturelle Angebote nicht fehlten und Sport getrieben wurde, drohen auszusterben ...

Die uns derzeit Regierenden leiden unter Selbstgefälligkeit und verkünden unisono »Deutschland geht es gut«, mehr noch, besser als je zuvor. Das mag gemessen an anderen Gesellschaften stimmen, verkennt aber, wie ungleich die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik sind und auf welch unsicherem Grund wir stehen. Ein Bild der Zukunft bieten die Regierungsparteien nicht an. Ihr politischer Horizont ist eng begrenzt, ihre Angebote entspringen einer Politik auf Sichtweite. Und da ein Zukunftsentwurf fehlt, bedarf es weiterhin der verflossenen DDR als negativer Kontrastfolie, um uns das krisengeschüttelte kapitalistische System als heile Welt und als Erlösung von einer schrecklichen kommunistischen Diktatur zu offerieren. Schlimm, dass es erst hasserfüllter Proteste von AfD-Anhängern bedurfte, damit sich bei manchen Vertretern des Establishments etwas Nachdenklichkeit darüber einstellte, was bei der Übernahme der DDR schief oder »suboptimal« gelaufen sein könnte. Dabei war doch vieles vorhersehbar ...

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Die Deutschen müssen nicht ein Volk ohne Unterschiede werden; eine von Diskriminierungen und gravierenden Benachteiligungen freie Verschiedenartigkeit von Deutschland-West und Deutschland-Ost darf und sollte fortbestehen und kann uns bereichern. Die Folgen von Jahrzehnten getrennter Geschichte lassen sich ohnehin auf absehbare Zeit nicht auslöschen. Aber es muss in diesem Lande eine angenäherte Gleichheit der Lebensverhältnisse und der Lebenschancen geben. Da kann der deutsche Westen nicht alleiniger Maßstab sein, was richtig und was falsch, was effektiv und was unproduktiv ist.

Da sich der Vorsprung des Westens in der industriellen Produktion und der dort erzielten Arbeitsproduktivität als unaufholbar erweist, haben Sozialwissenschaftler zu bedenken gegeben, ob im Osten ein anderer zukunftsträchtiger Wachstumspfad denkbar ist. Eine Entwicklung, die auf regionale Kreisläufe, auf die Energiewende, auf Biolandwirtschaft, auf ein alternatives Verkehrskonzept sowie auf naturgeschützte Lebens- und Erholungsräume setzt. Und das in Formen solidarischen Wirtschaftens, in Genossenschaften und ähnlichen Strukturen. Ob ein solches Konzept Aussicht auf Erfolg hat, vermag zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand mit Sicherheit zu sagen. Aber der Weg in diese Richtung muss wohl gewagt werden.

Vor allem bedarf es endlich einer Regierung, die sich fähig erweist, einen von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Zukunftsentwurf glaubwürdig zu vertreten. Das ist von der derzeit herrschenden konservativen Oberschicht nicht zu erwarten und gleich gar nicht von deren offener »rechten Flanke«. Nur ein breites Linksbündnis vermag die schlimmsten Folgen der vertanen Chancen von Wende und Anschluss zu tilgen oder zu minimieren und Lösungen für die existentiellen Probleme der Deutschen, die letztlich Menschheitsprobleme sind, anzubahnen.

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