Purgatorium statt Paradies
Ola Mafaalani betreibt bei ihrer Hommage an Marcel Carnés Kultfilm »Kinder des Olymp« viel Aufwand. Der zauberhafte Kern der Geschichte geht aber unter.
Die Vorfreude war groß. Ola Mafaalani, in den Niederlanden gefeierte Regisseurin, in Syrien geboren und mit Ruhrgebietssozialisation, sollte ins deutsche Stadttheater, namentlich das Berliner Ensemble, etwas von der poetischen Leichtigkeit einführen, für die die größeren Häuser des kleineren Nachbarlandes seit einiger Zeit bekannt sind.
Als Stoff hatte sie sich die so absurde wie Herz zerreißende Geschichte der Dreharbeiten zu Carnés »Kinder des Olymp« (französischer Titel »Les Enfants du Paradis«) ausgesucht. Carné drehte den Film während der deutschen Besatzungszeit der 1940er Jahre in Paris. Er sah in ihm einen Sieg der französischen Kultur über das Besatzerregime. »Les Enfants« war bis dato der teuerste französische Film - ein Kostüm- und Liebesfilm im Künstler- und Schaustellermilieu der 1820 und 1830er Jahre - bei dem aber eine Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht nicht aus blieb. Hauptdarstellerin Arletty war zudem mit einem deutschen Offizier liiert. Sie wurde deswegen nach Kriegsende vor ein Gericht gestellt war bei der Premiere des Films im befreiten Paris als Kollaborateurin im Gefängnis.
Arletty war andererseits parallel mit einer aristokratischen Resistance-Kämpferin in Liebe verbunden; bei der Urteilsfindung spielte dies offenbar keine Rolle. Die Filmcrew selbst bestand aus weiteren Resistance-Mitgliedern und einigen jüdischen Künstlern, die durch die Dreharbeiten Schutz erfuhren. Aber auch ein hartgesottener Antisemit und enger Freund des umstrittenen Literaten Louis-Ferdinand Celine gehörte zum Ensemble. Politisch korrekt war an der Truppe nichts, aus keiner Parteisoldaten- und Ideologenperspektive. Einen großartigen Film schuf sie dennoch: Mit Tafelszenen, während halb Paris hungerte und auch den Darstellern die Mägen knurrten. Mit Kostümen, die aus Papier und Holz gefertigt wurden. Mit bezauberndem Licht trotz Stromausfalls.
Mafaalani, die von diesem Stoff selbst wie elektrisiert wirkte, lässt sich leider sehr viel Zeit, bis sie zu dieser Konstellation gelangt. Mühsam wird erst die Filmhandlung durchbuchstabiert. Manche Schauspieler fremdeln darin mit ihren Rollen, besonders die erst spät in der Probenphase eingesprungene Kathrin Wehlisch als Garance und Felix Rech als Liebhaber Frederick. Zum tapferen Retter dieses ersten Teils wird Peter Moltzen als Pantomime Deburau. In seinem wortlosen Spiel blitzt kurz etwas von jener Poesie auf, die man sich von Mafaalani erwartet, ja erhofft hatte.
Überraschend wenig Leichtigkeit kommt durch das knappe Dutzend Akrobaten herein. Gewiss, sie lassen weiße Kugeln durch die Luft schwirren, liefern Hebefiguren ab, auch eine hübsche Reifennummer gibt es. Doch sie wirken nur als Staffage auf die Bühne gestellt. Es besteht kaum Verbindung zu den Schauspielern. Die Schrillheit des Vorhabens, Pariser Jahrmarktsspektakel der 1830er Jahre im kriegsgebeutelten Paris der 1940er aufwendig zu reinszenieren, wird keinen Moment spürbar. Fremdkörper in dieser szenischen Anordnung bleibt auch das hochkarätig besetzte Musikertrio (Eef van Breen, Biliana Voutchkova, Antonis Anissegos), das von Jazz bis Neuer Musik so ziemlich alles kann, und das auf hohem Niveau. Violinistin Voutchkova trat etwa auch beim Ensemble Modern auf. Aber all diese Elemente bleiben unverbunden.
Seinen Tiefpunkt erreicht der Abend, als van Breen als musikalischer Leiter einen Chor dirigiert, der im Stile Brechtscher Lehrstück-Chöre die Produktionsbedingungen des Films deklamiert. Nürnberger Trichter statt Schauspielmagie. Da hilft später auch der viele Kunstschnee nicht, um Zauber zu erzeugen.
Einen der wenigen anrührenden Momente zerstört schließlich sogar die große Ilse Ritter. Erst fragt der kleine Baptiste Deburau, vorgeschickt von seiner Mutter, die um den Erhalt der eigenen Ehe besorgt ist, Garance, die Liebhaberin des Vaters, ob sie denn allein sei, weil sie keine Kinder habe. Wehlisch als Garance tritt in einen echten Dialog mit dem Jungen. Lebenstrauer erfüllt die gesamte Szenerie. Als der Junge zu Ritter als Arletty weiterwandert, nutzt die Grande Dame den Burschen nur als Sichwortgeber, um dann in ihren Duktus zu verfallen. Der kleine, große Moment ist dahin.
Natürlich kann sich der Abend noch einspielen, die vielen, für sich selbst gesehen durchaus reizvollen Elemente könnten szenisch amalgamieren. Zur Premiere sah man sich vom erhofften Paradies aber ins Purgatorium spediert.
Nächste Vorstellung: 24. Januar
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