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Europa aus der Krise führen: Ein neuer Élysée Vertrag

»nd« dokumentiert eine Erklärung von Dietmar Bartsch, Jean-Luc Mélenchon und Sahra Wagenknecht zur künftigen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich

  • Lesedauer: 7 Min.

Als Fraktionsvorsitzende französischer und deutscher Fraktionen in der französischen Nationalversammlung und dem deutschen Bundestag würdigen wir, was die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern zur Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen hat. 55 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags muss diese Zusammenarbeit unserer beiden Länder erneuert werden, um den neuen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Wir werden jedoch nicht akzeptieren, dass dies als Vorwand dient, um unsere beiden Länder als eine Art Direktorium zu installieren, das über das Schicksal der 26 anderen europäischen Mitgliedstaaten entscheidet. Wir können keine deutsch-französische Kooperation akzeptieren, die darauf beruht, die anderen Länder beiseite zu drängen und die sich zum Ziel setzt, den Rest Europas zu dominieren. Für uns ist kein Europa möglich oder wünschenswert, wenn die Nationalstaaten nicht gleichberechtigt sind.

Es stimmt – wir müssen handeln. Doch ein halbes Jahrhundert nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs befinden sich die deutsch-französische Zusammenarbeit und die europäische Integration in einer schweren Krise: Die ständige innere Abwertung Deutschlands im Euroraum durch arbeitnehmerfeindliche Arbeitsmarktreformen hat die soziale Spaltung in Deutschland vertieft und den Wohlstand in Europa untergraben. Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wie Frankreich und Italien haben seit der Einführung des Euros 25 Prozent ihrer industriellen Wertschöpfung eingebüßt. In Südeuropa wurde nach der Finanzkrise ein antidemokratischer Coup vollzogen, der von der deutschen Regierung sowie der Finanzoligarchie ausging und dazu führte, dass Löhne, Renten, der Sozialstaat und öffentliche Investitionen gekürzt wurden, öffentliches Eigentum privatisiert wurde und die Parlamente an Macht einbüßten. Die Jugendarbeitslosigkeit hat dramatisch zugenommen und eine verlorene Generation in Europa geschaffen, die unfreiwillig ins Ausland abwandern muss.

Der Europäische Binnenmarkt wurde über die EU-Verträge und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes mehr und mehr in den Dienst der Banken und Konzerne gestellt. Das ursprüngliche Verbot der wirtschaftlichen Diskriminierung wurde zunehmend überdehnt, um heimische Löhne, soziale Rechte und Umweltnormen gemäß der Herkunft der Unternehmen zu unterlaufen. Dieses Modell soll mit Handels- und Investitionsschutzabkommen wie CETA, TISA oder JEFTA und einer privaten Paralleljustiz der Konzerne auf die Welt ausgedehnt werden.

Da Großbritannien die Europäische Union verlässt, wollen die deutsche und die französische Regierung die Gunst der Stunde nutzen, um durch permanente Aufrüstung den militärisch-industriellen Komplex zu stärken und ihren Einfluss in Nordafrika, im Nahen Osten sowie in Osteuropa auszuweiten. Doch die Regime-Change-Kriege, die Öl- und Gaskriege, die Einkreisung Russlands sowie die ökonomische Verwüstung durch unsere Handels- und Nachbarschaftspolitik haben Staatenzerfall, Terror und Flucht geschaffen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron wollen das Europa der Banken und Konzerne vertiefen, das den Aufschwung reaktionärer Kräfte links und rechts des Rheins gefördert hat. Der neue deutsch-französische Deal für die Eurozone lautet Geld gegen Strukturreformen, permanente Kürzung von Löhnen, Renten und öffentlichen Investitionen, eine Agenda 2010 in Frankreich statt einer Stärkung der Binnenwirtschaft sowie dem Abbau der deutschen Exportüberschüsse. Die nationalen Parlamente sollen überdies bei internationalen Handelsverträgen entmachtet werden. Der deutsch-französische Deal für die Verteidigungsunion lautet: Aufrüstung statt Abrüstung einschließlich der nuklearen Konfrontation gegenüber Russland, Schwächung der Parlamente bei der Kontrolle des Militärs und die Ausnahme von Rüstungsinvestitionen vom Fiskalpakt.

Uns hingegen eint der Wunsch nach einer immer engeren Zusammenarbeit von Deutschen und Franzosen auf der Grundlage von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Wir wollen ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa. Daher verpflichten wir uns – ob in Regierung oder Opposition -, folgende Initiativen der deutsch-französischen Zusammenarbeit und der guten Nachbarschaft voranzutreiben. Dies sind für uns die Grundlagen eines neuen Élysée-Vertrages:

  • Deutschland muss sich gemäß dem Stabilitätsgesetz von 1967 im Rahmen der EU auf einen ausgeglichenen Außenhandel zum Wohle der Beschäftigten in Deutschland sowie der europäischen Partner verpflichten und Löhne sowie öffentliche Investitionen stärken. Chronische Exportüberschüsse Deutschlands oder Frankreichs sollten durch eine unverzinsliche Einlage sanktioniert werden, die der Entwicklungsbank des Nachbarlandes zugeführt wird.
  • Deutschland und Frankreich sollten eine europäische Schuldenkonferenz initiieren und eine zeitlich befristete Vermögensabgabe von Millionären nach dem Vorbild des deutschen Lastenausgleichs nach dem 2. Weltkrieg erheben. Der Fiskalpakt ist auszusetzen und bis zu einer Änderung der EU-Verträge sind zivile-öffentliche Investitionen von den Defizitkriterien von Maastricht auszunehmen
  • Die Europäische Zentralbank bzw. die Bundesbank sowie die Banque de France sollten gemeinsame strategische Investitionen in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - etwa in Forschung, Bildung, zur Bekämpfung des Klimawandels sowie der Jugendarbeitslosigkeit – finanzieren. Bis zu einer erforderlichen Änderung der EU-Verträge und der Statuten der EZB könnten die nationalen Entwicklungsbanken Deutschlands und Frankreichs hierzu gemeinsame Anleihen begeben, die von der EZB bzw. den nationalen Notenbanken gekauft werden.
  • Deutschland und Frankreich sollten in einer Protokollerklärung das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit und den Vorrang der nationalen Lohn-, Sozial- und Umweltstandards vor den Binnenmarktfreiheiten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes verankern. Das gilt insbesondere auch für die Entsenderichtlinie. Der Mindestlohn in Deutschland und Frankreich ist mittelfristig bei 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes zu harmonisieren.
  • Deutschland und Frankreich verabreden einen effektiven Mindeststeuersatz von 25 Prozent auf Unternehmensgewinne und erheben auf alle konzerninternen Zahlungen wie Dividenden, Zinsen oder Lizenzgebühren, die in Steueroasen innerhalb und außerhalb zu geringeren Sätzen versteuert werden, eine Quellensteuer. Gemeinsam legen unsere beiden Länder einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für lebensnotwendige Güter fest.
  • Deutschland und Frankreich gehen gemeinsam gegen Steuerparadiese vor, auch wenn diese Mitglied der Europäischen Union sind.
  • Deutschland und Frankreich schließen weitere Handels- und Investitionsabkommen aus, wenn diese zur Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher und kommunaler Dienste, zur Schwächung von Löhnen, Sozialstaat, Umwelt und Verbraucherschutz führen. Eine Sondergerichtsbarkeit von Konzernen schließen wir aus.
  • Deutschland und Frankreich verpflichten sich zu gegenseitigen Abrüstungszielen, einem sofortigen Stopp von Waffenexporten in Krisengebiete und der Stärkung des sicherheitspolitischen Dialogs mit Russland im Rahmen der OSZE.
  • Analog zum deutsch-französischen Ministerrat sollen die Parlamente Deutschlands und Frankreichs in einem gemeinsamen Ausschuss regelmäßig beraten und Bundeskanzler bzw. Staatspräsident eine Regierungserklärung zu deutsch-französischen Gipfeln abgeben. Hierbei sollen Abgeordnete des jeweils anderen Parlaments auf Einladung einer Fraktion im Plenum des Bundestages bzw. der Nationalversammlung auf Deutsch oder Französisch das Wort ergreifen dürfen.
  • Wir verpflichten uns zur deutlichen Aufstockung der Mittel des deutsch-französischen Jugendaustauschs, des Ausbaus der deutschen sowie französischen Sprachkurse im Schulsystem und der Mittel für deutsch-französische Kulturinitiativen wie dem Fernsehsender ARTE. Jugendliche mit Wohnsitz in Deutschland oder Frankreich sollten bei Vollendung der Volljährigkeit für ein Jahr kostenfrei den Zugverkehr des jeweils anderen Landes nutzen dürfen.
  • Frankreich und Deutschland kooperieren beim gemeinsamen Ausstieg aus der Atomenergie und aus den fossilen Energieträgern. Es muss damit Schluss gemacht werden, dass die französische Atomindustrie Europa bedroht und die Braunkohletagebaue in Deutschland Europa verpesten. Wir wünschen uns eine größtmögliche verstärkte Zusammenarbeit, um das Ziel von 100% erneuerbarer Energie zu erreichen.
  • Frankreich und Deutschland engagieren sich für das Recht aus Asyl und dafür, diesem Recht Anerkennung in Europa zu verschaffen. Die beiden Länder arbeiten gemeinsam im Kampf gegen Fluchtursachen, die Elend, Ausbeutung und Tod bedeuten. Deshalb weisen sie alle Freihandelsverträge zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten zurück, betonen erneut die Dringlichkeit, notwendige Schritte gegen den Klimawandel zu unternehmen und lehnen alle militärischen Destabilisierungsmaßnahmen ab, die den massiven Fluchtbewegungen zugrunde liegen. Wir fordern dazu auf, eine jährliche Migrationskonferenz unter der Schirmherrschaft der UN einzuberufen.
  • Frankreich und Deutschland legen gemeinsam einen Ausstiegsplan für die Anwendung von Pestiziden im landwirtschaftlichen Bereich vor, definieren rigide Normen gegen das Leiden von Tieren und die Massentierhaltung, rufen ein Moratorium für den Raubbau an der Natur in ihren beiden Ländern aus und werden aktiv, um den von den Konzernen vorangetriebenen vorzeitigen Verschleiß von Produkten (Obsoleszenz) zu stoppen.
  • Die beiden Länder setzen sich bei der UNO für die Einrichtung eines Gerichtshofs für wirtschaftliche Gerechtigkeit ein, der die Verbrechen transnationaler Investoren wie internationaler Steuerbetrug, Spekulation und Korruption behandelt, sowie für die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs für Umweltgerechtigkeit.
  • Wir streben in diesem Geiste neue EU-Verträge an, die in allen EU-Mitgliedstaaten Volksabstimmungen unterworfen werden und wollen bis dahin die oben genannten Initiativen im Wege der deutsch-französischen Kooperation sowie der verstärkten Zusammenarbeit umsetzen.

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