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Der Kampf für Freizeit - und um Befreiung

Eine US-amerikanische Perspektive auf die aktuelle Tarifauseinandersetzung der IG Metall

  • Miya Tokumitsu
  • Lesedauer: 7 Min.

Gegenwärtig befindet sich die größte deutsche Gewerkschaft IG Metall in einer Tarifauseinandersetzung mit tiefen historischen Wurzeln. Die Gewerkschaft - die 2,3 Millionen Fabrikarbeiter*innen repräsentiert - nutzt die aktuelle Tarifrunde, um die Möglichkeit einer temporären, flexiblen und nach den Bedürfnissen der Arbeitnehmer*innen zu gestaltenden Reduzierung der Arbeitswoche zu fordern. Sie argumentiert, dass die Arbeiter*innen dadurch unter anderem mehr Zeit hätten für die Kindererziehung oder die Pflege von älteren Verwandten. Mit dieser Initiative kehrt die IG Metall zu einem enorm wichtigen und traditionell erfolgreichen, Themenfeld der Arbeiterbewegung zurück: Freizeit für Arbeiter*innen.

Das Argument der IG Metall ist, dass Freizeit für die menschliche Würde essentiell ist; damit wir uns um uns selbst und unsere Gemeinschaft kümmern können, müssen wir Zeit für uns selbst haben, abseits der Profitproduktion für die Arbeitergeber*innen. Außerdem brauchen wir Freizeit, um unser eigenes menschliches Potenzial zu entfalten. Um selbstständig denken zu können, romantische Erfahrungen zu machen, Freundschaften zu pflegen und um unsere eigenen Interessen und Leidenschaften zu verfolgen, benötigen wir Zeit, die weder dem Chef noch dem Markt gehört, sondern wirklich uns selbst. In ihrem Kern ist die Kampagne für weniger Arbeitsstunden ein Kampf um Befreiung, sowohl individuell als auch kollektiv.

Miya Tokumitsu

Miya Tokumitsu ist Kunsthistorikerin an der Universität Melbourne. Sie veröffentlichte das Buch »Tu, was du liebst. Und andere Lügen über Erfolg und Glück«. Tokumitsu schreibt auch in dem linken US-amerikanischen Magazin »Jacobin«, das zum Aufbau einer sozialistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten beitragen will. Aus »Jacobin« stammt der nebenstehende Text. Von Johannes Liess ins Deutsche übersetzt, erschien er auf der Webseite der Zeitschrift »Luxemburg«. Wir veröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung beider Publikationen.

Dementsprechend überrascht es, dass diese Frage schon lange nicht mehr die politischen Programme in den USA schmückt, nicht einmal auf Seiten der Linken. Das war nicht immer so. »Die Länge des Arbeitstages«, argumentieren Arbeits-Historiker*innen, »war in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung die zentrale Fragestellung während ihrer dynamischsten Organisationsphasen.«

Die 1886 ermordeten Radikalen am Haymarket kämpften für den Acht-Stunden-Tag (»Acht Stunden zum Arbeiten, Acht Stunden zum Schlafen, Acht Stunden für Freizeit«, war die Forderung der damaligen Zeit). Während der Großen Depression nach 1929, in einer Phase erheblicher Arbeitskonflikte, wurde der erfolglose Versuch unternommen, die Arbeitswoche auf 30 Stunden zu verkürzen. Über Jahrzehnte hinweg verstand die amerikanische Arbeiterbewegung den Kampf um Freizeit als eine Forderung, die ausgebildete und unausgebildete, beschäftigte und arbeitslose Arbeiter*innen vereinen könnte.

Heute sollten wir dieses Erbe erneut für uns beanspruchen. Die Zahl der Arbeitsstunden zu senken und gleichzeitig den Lebensstandard anzuheben, das sollten für die Linke zentrale und leitende Themen sein.

Die Gründe dafür, dass Freizeit als Forderung auf der Strecke blieb, sind vielfältig und komplex. Der Historiker Benjamin Kline Hunnicutt stellt fest, dass in den USA die Konsumkultur der Nachkriegsordnung, der Ausschluss von Radikalen aus den Gewerkschaften und die Orientierung der Arbeiterbewegung auf ökonomisches Wachstum als Motor des Wohlstands dazu beigetragen haben, die Kämpfe um Zeit in den Hintergrund zu drängen.

Der Aufstieg des Neoliberalismus tat sein Übriges. Generationen von Arbeiter*innen wurden mit dem Glauben großgezogen, dass die grundlegenden Formen von Menschlichkeit hinausgeschoben oder gekauft werden können und dass längeres und härteres Arbeiten der Weg zu einem erfüllten Leben ist: Kämpfe dich nur weiter durch den Konkurrenzkampf der Beschäftigung und du kannst (individuell) für die Kinderversorgung bezahlen, Urlaubstage verhandeln, dich früher zur Ruhe setzen und dich für deine Immobilien-Investitionen auszahlen lassen, um deinen Erben etwas zu hinterlassen. Viele amerikanische Gewerkschaften begrüßten diese neue Haltung; einige fordern bis heute mehr Stunden, damit die Beschäftigten überhaupt über die Runden kommen können, anstatt sich dafür einzusetzen, dass Arbeitgeber*innen mehr pro Stunde zahlen.

Heute allerdings, mit stagnierenden Löhnen und prekärer Beschäftigung als Norm, arbeiten nur noch die wenigsten Menschen mit der Illusion, dass mehr Arbeitszeit der Schlüssel zu Würde und Glück ist. Das gilt umso mehr für diejenigen, die noch am Anfang ihres Berufslebens stehen. Wer sollte daran auch glauben, wenn angemessene Renten ein Relikt der Vergangenheit sind? Wenn die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Nicht-Arbeitszeit verschwimmen und ständig neu verhandelt werden müssen? Wenn die Gedanken nach mehr oder weniger Arbeit uns ständig im Kopf herumgeistern - ob wir noch einen Kunden mit Uber mitnehmen, noch eine Schicht im Krankenhaus übernehmen, noch einer Korrektur von 50 Seminararbeiten zustimmen?

Innerhalb dieses Kontextes kommt es in verschiedenen Ecken der Linken zu Diskussionen über Zeit und Temporalität: »Spätkapitalismus«, »post work« Zukünfte und »Akkzelerationismus« sind zu bekannten Schlagworte geworden. Diese Diskurse sind wertvoll. Aber weil wirkliche Ziele in diesen Diskussionen meist nur im Abstrakten oder weit Entfernten ausgemacht werden können, in einer weit entfernten Zukunft liegen, liefert uns diese Rhetorik auf sich allein gestellt keine angemessenen Werkzeuge, um eine Bewegung aufzubauen. Weil diese Diskussionen außerdem dazu neigen, sich in der Universität oder anderen kleinen Zirkeln abzuspielen, gehen sie oft an den meisten arbeitenden Menschen vorbei, so überzeugend die Ideen an sich auch seien mögen. Mit anderen Worten müssen die beiden alten Schelme, Theorie und Praxis, die wie zwei Kleinkinder in verschiedene Richtungen rennen, geschnappt und zusammengebracht werden.

In der Zwischenzeit sollten wir für Dinge kämpfen wie eine kürzere Arbeitswoche, deutlich angehobener Lohn für Überstunden, niedrigeres Rentenalter, erweiterte soziale Absicherung, bezahlter Familienurlaub, bezahlte Krankheitstage, Kindergeld und Sabbaticals. Alle diese Forderungen zielen direkt darauf ab, die profitorientierten Arbeitsstunden zu reduzieren und die Selbstbestimmung und materielle Situation der Arbeiter*innen zu verbessern. Sie sind greifbare, erreichbare Ziele, auf denen man aufbauen kann. Und sie sind dazu in der Lage, ein breites Spektrum von Arbeiter*innen und Nicht-Arbeiter*innen zusammenzubringen. Indem wir beispielsweise die Arbeitsstunden kürzen und auf mehr Arbeiter*innen verteilen, können wir zugleich Vollbeschäftigung erreichen. Eine Verstärkung der sozialen Absicherung kann die häuslichen Pflegekräfte mit den Pflegebedürftigen zusammenbringen.

Auf einer etwas theoretischeren Ebene muss ein wichtiger sprachlicher Kampf über die Bedeutung der Arbeit als einer Quelle der Sinnstiftung geführt werden. Das bedeutet, grundlegender über freie Zeit nachzudenken und darüber, wie wir in einer Gesellschaft mit weniger Arbeitsstunden unser Leben verbringen würden.

Im globalen Kapitalismus ist Freizeit oft eine Strafe; genug Menschen haben viel zu viel davon, von den Bewohnern der Flüchtlingslager bis zu den Arbeitslosen. Die US-amerikanischen Opium- und Methamphetamin-Krisen zeigen deutlich, dass freie Zeit ohne die richtigen Ressourcen und sozialen Netzwerke das absolute Gegenteil von Befreiung sein kann. Aber Geld allein ist auch nicht die Lösung. Man muss sich nur Kim Dotcoms »Good Life«-Video oder die »Geldtagebücher« einer Person mit einem 1,25 Millionen Dollar Gehalt in Los Angeles ansehen, um die deprimierende Leere erahnen zu können, die sich hinter der vielen Zeit für den Warenkonsum verbirgt. Gleichzeitig hat der Kapitalismus auf vielfältige Art und Weise auch das kleine bisschen an Freizeit, das uns zur Verfügung steht, mit demselben Verlangen nach Produzieren und Messen gefüllt, das wir sonst eigentlichen mit dem Arbeitsplatz assoziieren.

Deshalb bleibt es essentiell, eine positive Vision davon zu artikulieren, wie Freizeit aussehen kann und wie die dafür notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden können. Bewegungen ohne eine überzeugende Vision einer besseren Zukunft sind eine Sackgasse; diese Vision zu errichten, heißt Theorie und Praxis zusammenzuführen.

In dieser Hinsicht können wir uns in den USA vom Ausland inspirieren lassen. Es ist kein Zufall, dass gerade die IG Metall sich dazu ermutigt fühlt, weniger Stunden zu fordern - schließlich ist es dieselbe Gewerkschaft, die auch die 35-Stunden Woche in Westdeutschland erkämpft hat.

Doch es wäre ein Fehler zu glauben, dass dieser Kampf nur Europa betrifft. Wieder und wieder hat die amerikanische Arbeiterbewegung den Kampf für eine reduzierte Arbeitswoche aufgenommen, um die Freiheit der Arbeiter*innen zu erweitern. Sie erkannte das Potenzial einer solchen Forderung: Sie stellt sich nicht nur eine Welt vor, in der die Menschen größere Kontrolle über ihr Leben besitzen, sondern sie erschafft auch Solidarität untereinander. Indem sie die Interessen der Arbeiter*innen und der Arbeitslosen vereint, ausgebildet oder nicht, egal in welchem Land sie geboren wurden.

Der Moment ist gekommen, um zu mobilisieren und so viel wie möglich unserer vergänglichen Lebenszeit einzufordern.

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