- Kultur
- Fliesenkunst
Aufsteigender Morgennebel
Der Handwerker macht sich an den Fliesen an der Spüle zu schaffen. »Können Sie die Fliesen eigentlich eins zu eins ersetzen?«, frage ich hoffnungsvoll. »Nee, das geht nicht«, höre ich von ihm. »Die da sind alt. Ich schätze, frühe siebziger Jahre. Vermutlich Wanne-Eickel-Biedermeier oder Steglitzer Barock. Ich tippe auf Letzteres.«
Er zeigt mir die mitgebrachten Fliesen. Es sind weiße. Oh Gott, denke ich, die passen doch farblich überhaupt nicht zu meinen! Meinen entsetzten Gesichtsausdruck kann er richtig deuten. »Ihre sind jadegrün mit weißen Schleiern drin. Die kriegen sie nirgendwo mehr. Ich kann mal im Wagen schauen, ob ich noch andere dabei habe.«
Eine viertel Stunde später steht er wieder in der Küche. Er hat angefangen, graue Kacheln zu verarbeiten. Um Himmels willen! Die sind ja furchtbarer als die weißen. »Können Sie die bitte wieder abmachen?«, stammele ich. »Der Anblick beleidigt mein ästhetisches Gefühl.« - »Das geht nicht«, antwortet der Monteur. »Wir haben nur weiße und graue. Und ich muss nur fünf Fliesen ersetzen.« -»Oh Gott«, rufe ich. »Ich werde jedes Mal, wenn ich künftig die Küche betrete, einen Schock bekommen!«
Der Handwerker seufzt, legt die Silikonkartusche weg und stellt sich neben mich. »Schauen Sie mal genau hin«, fordert er mich auf. »Die grauen Fliesen am linken Rand erscheinen, bei einer poetischen Betrachtung der Komposition, wie ein morgendlicher Nebel, der über einem Meer emporsteigt.« - »Jaaaa, unter Umständen mit ganz viel Vorstellungskraft«, sage ich zögernd. - »Die jadegrünen Fliesen«, fährt der Handwerker fort, »erscheinen in der Wahrnehmung des Betrachters wie ein Meer. Kennen Sie die Adria?« Ich nicke. »Dann haben Sie sie sicherlich auch schon bei strahlendem Sonnenschein gesehen, am frühen Morgen, wenn der Mensch noch nicht regsam und die Natur mit sich allein ist.«
»Sie haben recht. Jetzt sehe ich es auch.«
»Die weißen Schwaden in den Fliesen sind Cirrocumulus-Wolken, die über den Strand hinwegziehen, raus auf die offene See, wo sie sich gemeinsam mit dem Nebel auflösen und einen Sommertag versprechen, wie ihn die Natur nicht alle Tage bietet.« - »In der Tat«, sage ich. »Das ist ein außerordentlich poetisches Bild, das Sie da zeichnen. Sehr schön, ich bin begeistert. Sie haben gute Arbeit geleistet. Die neue Farbe verändert das zuvor einfarbige, eintönige Fliesenensemble, das so keinerlei künstlerischen Erkennungswert zuließ.«
Der Handwerker sagt nichts, sondern packt sein Material und verlässt die Wohnung. Eine halbe Treppe tiefer steht er bei seinem Kollegen, der ein Außenklo malern musste. »Und? Musstest du wieder eine Story erzählen?«, fragt dieser. »Ja, die mit dem Nebel und dem Meer. Fiel mir aber leicht wegen der grünen Fliesen.« - »Welche Geschichte erzählst du den Leuten eigentlich bei Blümchenmustern?« - »Die mit der Wiese, dem Sommer und dem Nebel. Nebel habe ich immer drin, das weckt bei den Leuten irgendwelche Gefühle.«
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