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Warum Hitler Kanzler wurde
30. Januar 1933 und heute: Fragen an einen zeitgemäßen Antifaschismus
Alles ist bekannt, sowohl das Geschehen an diesem Tag vor 85 Jahren als auch das, was ihm vorausging und ihm folgte. Jedes Detail wurde bereits mehrfach und gründlich erforscht. Die erreichbaren Quellen dürften als erschöpft gelten, neue sind kaum auszumachen und würden - sollten sie eines Tages noch auftauchen - kaum etwas am Gesamtbild ändern. Den spähenden Historikeraugen blieb wenig verborgen; umfangreiche, mitunter auch aufgeblähte Wälzer bezeugen dies. Allerdings lassen sich in der Auswahl sowie in der Deutung der Fakten Unterschiede erkennen, zumeist in erheblichem Maße. Vor allem aber kontrastiert der hohe Wissensstand zu den oftmals erbärmlich wirkenden Kenntnissen derer, die in Schulen »informiert« werden oder sich hauptsächlich von Medien »bilden« lassen.
Jeder kann und sollte wissen, wohin jener geschichtsträchtige Tag geführt hat. Er bescherte den Deutschen eine von Hitler geleitete Regierung, die eine »der nationalen Konzentration« sein wollte. Hinter der schönenden Bezeichnung verbarg sich das Bündnis der konservativen Deutschnationalen Volkspartei mit der NSDAP, eine Allianz, die seit der im Jahre 1929 geschlossenen »Harzburger Front« eine wechselvolle Geschichte des Miteinanders und des konkurrierenden Gegeneinander erlebt hatte. Der Weimarer Republik und ihren parlamentarisch-demokratischen Grundlagen war nicht allein von den Nazis der Todesstoß versetzt worden. Es entfaltete sich nun - auch mit Unterstützung anderer bürgerlicher Parteien, die alle dem Ermächtigungsgesetz zustimmten - eine neue, eine terroristische Diktatur sondergleichen.
Manfred Weißbecker, geboren am 8. Februar 1935 in Chemnitz, war Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und von 1983 bis 1990 Dekan der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Thüringer Alma mater. Er arbeitete am Standards setzenden Handbuch »Die bürgerlichen Parteien in Deutschland 1830 – 1945« sowie am vierbändigen »Lexikon zur Parteiengeschichte« mit.
Als Standardwerke gelten auch seine gemeinsam mit dem Berliner Faschismusforscher Kurt Pätzold verfassten Bücher, darunter die erste deutschsprachige »Geschichte der NSDAP« (in der Erstauflage 1981 unter dem Titel »Hakenkreuz und Totenkopf« erschienen) und die erste marxistische Hitler- sowie Hess-Biografie. Gemeinsam mit Pätzold gab er zudem das zweibändige Werk »Schlagwörter und Schlachtrufe aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte« heraus. Er gehört zu den Gründern der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V., die er viele Jahre leitete.
Das Ergebnis bestand in einem Regime, gerichtet gegen alle anders Denkenden sowie gegen alle Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbe. Es richtete sich ebenso gegen friedliche Verhältnisse in Europa und zielte auf neue Kriege, gegen andere Völker, denen im geplanten und nur durch neue Kriege erreichbaren »Großgermanischen Reich« Vertreibung oder Ermordung, allenfalls eine Existenz als auszubeutende Arbeitssklaven zugedacht wurde. Die Großverbrechen Zweiter Weltkrieg und Genozid an den europäischen Juden markieren den absoluten Tiefpunkt eines Zeitalters, das Eric Hobsbawm insgesamt als ein »Jahrhundert der Extreme« bezeichnete.
Im negativen Urteil über den deutschen Faschismus nationalsozialistischer Prägung besteht - seit er militärisch überwunden worden ist - nahezu Einhelligkeit. Weitgehend herrscht auch heute Übereinstimmung in der Ablehnung von Versuchen alter und neuer Rechtspopulisten, dieses Regimes zu rechtfertigen oder gar dessen Erneuerung anzustreben - abgesehen von leider zahlreicher werdenden Ausnahmen: Erinnert sei unter anderem an das Echo auf Alexander Gaulands Ehrenrettung für die Soldaten der Wehrmacht und die zahlreichen rassistischen Einlassungen von AfD-Politikern.
Es verwundert also keineswegs, wenn angesichts der Rechtsentwicklung in Deutschland und in anderen Ländern vergleichend zurückgeschaut wird. Mitunter wird auch von einer neuen NSDAP gesprochen; verständlich angesichts des in der AfD verwendeten Vokabulars, das von einigen offen provokant, von anderen taktisch gezielt oder auch dümmlich verwendet wird, warnend vor einer »Umvolkung«, vor »Mischvölkern« und drohendem Untergang der Deutschen, hoffend auf neue »tausend« Jahre eines deutschen Reiches. Auf jeden Fall kennt man sich gut aus im Sprachmissbrauch der Nazis, in deren nationalistisch-völkischen Schlagworten und Denkstrukturen.
Diese offen zu zeigen - das passt jedoch nicht in heutige politische Verhältnisse. Diese werden von Globalisierung und Neoliberalismus geprägt, wodurch sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich für die Aufrechterhaltung der Macht des Kapitals hinreichend Oberwasser gewonnen werden konnte. Es wird keine neue NSDAP, kein historisch diskreditiertes und letztlich auch erfolgloses Modell benötigt. Selbst die AfD vertritt (möglicherweise: noch) keine Ideologie, die mit der des historischen Nationalsozialismus gleichzusetzen wäre. Im Vordergrund steht insbesondere ein Rassismus, der eher an den völkischen Wegbereitern der hitlerfaschistischen Diktatur orientiert zu sein scheint, aber auch viele Berührungspunkte mit einem von zahlreichen Konservativen vertretenen, mitunter recht abstrus wirkenden Alltagsrassismus enthält. Letzteres muss nicht verwundern, steht doch das Programmatische der AfD in großem Einklang mit jenem, das weit bis in die 1980er Jahre hinein auf den Fahnen von CDU/CSU zu finden war und das sich neu wieder zu artikulieren begonnen hat.
Wer sich heute mit dem 30. Januar 1933 befasst, sollte insbesondere fragen, von wem, wann, wo und wie die Wege dahin beschritten worden waren. Da kann kein Zweifel aufkommen an der Schuld deutscher Eliten, erwachsen aus ihren generellen innen- und außenpolitischen Machtorientierungen, auch wenn diese zugleich auf konkurrierenden Teilinteressen beruhten. Grundsätzlich ging es um eine weitgehende Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges sowie denen der Novemberrevolution von 1918/19.
Dennoch tobt gerade zur historischen Verantwortung der deutschen Eliten ein heftiger Deutungsstreit. Da werden in der gängigen Literatur und noch mehr in den Medien jene Beziehungsgeflechte zwischen den Wirtschaftseliten und der NSDAP gern übersehen, da wird eher von den schuldlosen, in das braune Regime lediglich »verstrickten« Unternehmern gesprochen. Oft heißt es, die Eliten des Militärs, der Justiz, der Staatsbürokratie und nicht zuletzt die bürgerlichen Parteien seien »überforderte Demokraten« gewesen. Dazu passt eine allgemeine, leider zunehmende »Entökonomisierung« in der Erklärung von Geschichtsverläufen, in der Darstellung und Erörterung gesellschaftlicher Ursachen und Zusammenhänge. Gleichzeitig erfolgt eine Mystifizierung des Geldes, der »Märkte« usw. Es findet also eine »Entkapitalisierung« statt, genauer: Es handelt sich um Entlastungskampagnen zugunsten des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das vom bekannten Soziologen Jean Ziegler zu Recht als ein »Imperium der Schande« charakterisierte.
Mehr und mehr kommt auch in Mode zu behaupten, die Herrschenden hätten 1933 gar nicht anders handeln können, da sie dem Denken und den Wünschen der Massen hätten Folge leisten müssen. Da geriet wohl zu einem Orientierungs-Motto, dem der damalige Bundespräsident Joachim Gauck am 22. Juni 2016 im ARD-Gespräch Ausdruck verlieh: »Nicht die Eliten sind das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.« Geht es noch schlichter? Lassen sich Schuldfragen auf innenpolitischer Ebene so klären wie auf der internationalen und außenpolitischen Ebene, wo jeder Konflikt, jede Untat anderen, zumeist jedoch den Russen in die Schuhe geschoben wird?
Zu erinnern wäre in unserer Zeit indessen auch an die Tatsache, dass es unter den Linken viel Streit über Begriff und Inhalt des Faschismus gibt, ja, dass einige Debatten sich schier endlos um sich selbst drehen und so das zu klärende Gesicht eines Antifaschismus im 21. Jahrhunderts außerordentlich belasten. Das Problem, das Klärung verlangt, hatte Lion Feuchtwanger in seinem 1933 erschienenen Roman »Die Geschwister Oppermann« in ein anschauliches, zum Nachdenken anregendes Bild gefasst: Ein Marathonläufer sollte eine Meldekapsel überbringen. Beschwerlich und entkräftend sei der Lauf gewesen, doch danach habe sich herausgestellt, dass die Dose leer war und keine Botschaft enthielt. Alle Anstrengungen hätten sich als vergeblich erwiesen.
Eine tiefgründige Analyse der Welt von heute ist erforderlich, anderenfalls könnte Antifaschisten wieder passieren, was Feuchtwangers Bild von einer mühevoll bewegten, aber botschaftslosen Kapsel meinte. Daher sei hier im Sinne einer solchen »Botschaft« gesagt: Alles, was uns heute begegnet, am traditionellen Faschismus und in Deutschland am Nazifaschismus zu messen, ist notwendig. Daran bleibt nichts zu deuteln. Dieses Messen indessen zum wichtigsten oder gar alleinigen Kriterium zu erheben, wird in die Irre führen. Notwendig sind neue Analysen einer neuen Situation. Es stellen sich neue Fragen an einen zeitgemäßen Antifaschismus. Schlichte historische Vergleiche verbieten sich.
Birgt nicht manches in der Welt von heute möglicherweise noch viel größere Risiken in sich, als sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Welt gebracht wurden? Sind heute nicht noch furchtbarere und globalere Folgen für die Menschheit denkbar, etwa die eines dritten oder vierten Weltkrieges, von Kriegen um Wasser und Nahrungsmittel, geführt mit gentechnisch hergestellten biologischen Massenvernichtungswaffen und ähnliches mehr? Mit welchen neuen Erscheinungen einer Entmenschlichung, einer Entmoralisierung ist angesichts des anhaltenden, zum Teil sogar ganz bewusst vorangetriebenen Differenzierungsprozesses zwischen Arm und Reich zu rechnen? Ist nicht heute schon der Bau sogenannter Kapselstädte geplant, in denen das Überleben ausschließlich von Wenigen in kommenden Klimakatastrophen gesichert werden soll? Ist nicht in vielen Ländern die Verödung von Peripherien gegenüber den Zentren bereits weit verbreitet? Was besagt es, wenn Umfragen ergeben, dass 61 Prozent der Befragten beklagen würden, man schleppe »zu viele Schwache mit«? Und wenn die These stimmt, wofür vieles spricht, dass künftig 20 Prozent der Erdbevölkerung genügen, um alles herzustellen, was gebraucht wird, dann geht es in irgendeiner der weiteren großen Krisen - und die werden gewiss kommen - nicht nur um die existenzielle Unsicherheit sogenannter Unterschichten, sondern um das menschlichen Dasein der leicht als »überflüssig« zu diskreditierenden 80 Prozent.
Die Barbarei im Umgang von Menschen mit »anderen« Menschen - gleich ob als rassisch definiert, als dumm diffamiert oder als sozial minderwertig und entbehrlich angesehen - könnte ein neues, dann wohl aber endgültiges Maximum finden. Dies könnte vielleicht als ein sich immer weiter faschisierender Faschismus bezeichnet werden. Wird für dieses dem 21. Jahrhundert gemäßes Phänomen irgendein anderer, ein treffenderer Begriff gefunden werden, so kann das am humanistischen Geist des historischen und gegenwärtigen Antifaschismus nichts ändern. Zu suchen sind allerdings neue politische Inhalte und Kampfformen, für große wie für kleinere Probleme, in internationalem und nationalem Rahmen sowie selbstverständlich auch in regionalen und lokalen Zusammenhängen.
Gegen den heutigen Marsch in eine andere, eine stärker rechtsorientierte Republik bedarf es einer konsequent-alternativen Politik. Mit ihr wäre anzustreben: Empörung statt Hinnahme und Resignation, aktiver Widerstand statt duldsamer Anpassung, Gegendruck statt schrittweiser Gewöhnung an das jetzt von Herrschenden Gewollte. Da Alltagsbewusstsein und -verhalten aus einem komplexen und außerordentlich vielgestaltigen Bündel politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller, religiöser und auch mentaler wie sozialpsychologischer Faktoren erwachsen, wären zugleich jene materiellen, sozialen, geistigen und weltanschaulichen Grundlagen zu enthüllen, die dazu führen können, dass viele Menschen in Unkenntnis und selbstverschuldeter Ohnmacht menschenfeindliche Handlungsmotive nicht erkennen, gewaltsamen Aktionen zu wenig widerstehen oder gar neue Kriege akzeptieren. Damals wie heute.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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