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Ohne Grün gibt es keine Linke
Robert D. Meyer ist der Überzeugung, dass Grüne und Linkspartei noch viel voneinander lernen werden
Es hat auch indirekt etwas mit Neid zu tun, wenn mancher Politiker der LINKEN nach der Wahl der neuen Grünen-Doppelspitze meint konstatieren zu können, durch das Duo Annalena Baerbock und Robert Habeck hätte die Partei »endgültig den linken Teil ihrer Geschichte hinter sich gelassen«. Die Worte, gesagt vom LINKEN Jan Korte, sind natürlich Teil der politischen Folklore im Nachgang des Parteitags eines politischen Konkurrenten, der eine Geschlossenheit demonstrierte, die sich so mancher Genosse im Karl-Liebknecht-Haus auch in den eigenen Reihen wünscht.
Und als am Ende des Streits um die Parteispitze die Unterlegene Anja Piel der Siegerin Baerbock den Erfolg für jeden sichtbar herzlich gönnte, fragte sich der Beobachter, ob es in der Linkspartei derzeit auch zu solchen Szenen des Miteinanders über die innerparteilichen Lager hinweg kommen würde. Hier liegt auch der Anspruch, den sich Baerbock und Habeck selbst geben: Gerade weil ihnen öffentlich das Etikett der Realos angeheftet wurde, sind sie um einen einigenden Ton bemüht. Sven Giegold, dieser Zuschreibungslogik folgend immerhin ein Parteilinker, kommentierte die Bewerbungsreden der neuen Vorsitzenden übrigens mit den Worten, »so viel Kapitalismuskritik (...) habe ich lange nicht an der Spitze der Grünen gehört«. Es spricht auch für sich, wenn »Welt«-Chefredakteur Ulf Poschardt aufgeschreckt vor dem »Umverteiler und applausverliebten Sozialromantiker« warnt.
Jung, dynamisch, Aufbruch? Erstmals in der Geschichte der Grünen wurden mit Annalena Baerbock und Robert Habeck zwei Politiker an die Parteispitze gewählt, die dem Etikett nach zum Realoflügel gehören. Beide zeigen sich offen für Koalitionen auch mit Union und FDP. Bleibt die Frage: Sind die Grünen noch Teil der gesellschaftlichen Linken?
Für nd-Redakteur Christian Klemm sind die Grünen schon lange keine linke Partei mehr.
Wie viel diese Einschätzung wert ist, wird sich in der politischen Praxis noch zeigen. Gegen Habeck könnte sprechen, dass er als Architekt der Jamaika-Koalition in Kiel gilt. Das ließe sich dem 48-Jährigen als Beweis für seine Realohaftigkeit auslegen oder eben auch als Beleg dafür, dass der Grünen-Politiker schlicht die Erfolge der abgewählten rot-grünen Vorgängerregierung bewahren wollte, der er als Minister angehörte. Die einzig rechnerische Alternative zu Schwarz-Gelb-Grün in Schleswig-Holstein lautete 2017 Große Koalition. Ein Los, vor dem übrigens Linke zu Recht immer wieder warnen.
Die Grünen schafften es, in den Koalitionsvertrag hineinzuverhandeln, dass sich Jamaika wissenschaftlich gestützt auf die Suche nach Alternativen zu unserem bisherigen sozialen Sicherungssystem begibt. Habeck, der leider kein Antikapitalist ist, gilt als Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens, womit sich auch die Frage klärt, wie der Parteichef zu einem der zentralen Sündenfälle grüner Regierungspolitik der letzten 20 Jahre steht.
Das Hartz-System ist für ihn kein Modell der Zukunft. Kritiker sollten einer Partei, die in der rot-grünen Schröder-Ära fest dem neoliberalen Dogma folgte, zugestehen, dass sie nur mit kleinen Schritten frühere Fehler eines Projektes einsieht, das völlig als der größte Umbau des deutschen Sozialstaates nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Als die Grünen 2003 die »Agenda 2010« mittrugen, war Baerbock 23 Jahre alt und noch nicht einmal Grünenmitglied. Lassen sich ihr Fehler der Vergangenheit vorwerfen? Viel eher steht das Grünen-Duo doch für den Mut zur Selbsterneuerung. Ein Wandel, der ehrlich wirkt, weil er sich - im Gegensatz etwa zur SPD - eben auch am politischen Personal zeigt.
Baerbock wie auch Habeck stehen mit Blick auf die Gegenwart aber gleichzeitig für schlichten Pragmatismus: Die gesellschaftliche Linke ist meilenweit von einer Mehrheit entfernt, der vorherrschende Zeitgeist ist nicht gerade von einer progressiven Aufbruchstimmung beseelt.
Bestenfalls übt sich die Linke derzeit in Abwehrkämpfen, um noch schlimmeren Sozialabbau, weitere Asylrechtsverschärfungen oder das beschleunigte Zusteuern auf eine ökologische Katastrophe zu bremsen. Der Weg des Umgangs damit kann Opposition bedeuten oder eben auch als Korrektiv in eine Regierung einzutreten, die eine Bremse braucht, weil Union und FDP bei allen genannten Themen keine Rücksicht kennen. Beide Optionen bedeuten weder, sich per se vor der Verantwortung zu drücken, noch grundsätzliche Überzeugungen zu verraten.
Insofern ist es unsinnig, wenn sich zwei 10-Prozent-Parteien gegenseitig ihre politischen Fehler vorwerfen. War der blinde Fleck der Grünen bisher die soziale Frage, ist es bei der LINKEN der ökologische, obwohl beide als unterschiedliche Seiten einer Medaille notwendiger Teil eines Zukunftskonzeptes sein müssen, an dem es der Linken derzeit fehlt.
Die Grünen: Das ist eben auch die Partei, die den alten Kohlekumpeln aus der Sozialdemokratie den Beginn einer bis heute fortdauernden Energiewende abrang. »Lasst uns selber nie damit anfangen, Öko gegen Soziales auszuspielen«, forderte Baerbock in ihrer Bewerbungsrede. Eine Erkenntnis, die sie so manchen Linken voraus ist. In einem nach rechts gerückten Bundestag brauchen sich Grüne und LINKE gegenseitig dringender denn je.
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