Menschenrechtler wird noch im Gefängnis erneut verhaftet
Der türkische Amnesty-Präsident Taner Kılıç wurde nicht freigelassen / Das zuständige Istanbuler Gericht widerrief den eigenen Beschluss
Die Freude bei der internationalen Menschenrechtsorganisation Amnesty International war groß: Ihr Türkei-Präsident Taner Kılıç sollte nach siebenmonatiger Untersuchungshaft entlassen werden. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Denn noch im Gefängnis wurde der 49-Jährige wieder verhaftet. Was war passiert?
Am Mittwochmittag hatte ein Istanbuler Gericht Kılıçs Freilassung angeordnet, alle anderen zehn Angeklagten in dem Prozess, darunter auch der Berliner Peter Steudtner, sind bereits auf freiem Fuß. Kılıç sitzt in Izmir im Gefängnis und war dem Verfahren nur zugeschaltet. Der nächste Prozesstermin wurde auf Juni verlegt. Nach Ende des Prozesstages nahm die Justizposse ihren Lauf: Gegen die Gerichtsentscheidung legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Ein zweites Gericht in Istanbul gab der Berufung statt und erließ erneut Haftbefehl gegen Kılıç. Polizisten nahmen ihn um Mitternacht fest, während seine Familie, so Amnesty Deutschland, vor dem Gefängnis auf ihn wartete. Er wurde also direkt aus der Haft in Polizeigewahrsam gebracht. Dort verbrachte er die Nacht. Am Donnerstag dann widerrief das Gericht, das am Mittwoch die Freilassung angeordnet hatte, die eigene Entscheidung. Damit muss Kılıç weiter in Untersuchungshaft bleiben.
Bei dem Verfahren handelt es sich um den sogenannten Büyükada-Prozess. Es geht um ein Seminar, das Amnesty im Juli 2017 auf der Insel Büyükada bei Istanbul abgehalten hatte. Das Seminar wurde von der Polizei gestürmt, die zehn Menschenrechtler verhaftet, neben Steudtner auch die Direktorin von Amnesty in der Türkei, Idil Eser. Ihnen wird seit dem 25. Oktober der Prozess gemacht, in die erst kurz vor Beginn vorgelegte Anklageschrift war auch Kılıç mit aufgenommen worden. Überraschend allerdings, denn an dem besagten Workshop hatte er gar nicht teilgenommen. Zu dem Zeitpunkt saß Kılıç nämlich bereits hinter Gitter, er war schon im Juni verhaftet worden. »In der über 55-jährigen Geschichte von Amnesty International ein einmaliger Vorgang«, schrieb die deutsche Sektion damals über die Tatsache, dass innerhalb eines Monats die Direktorin und der Präsident der Türkeisektion festgenommen worden waren. Kılıç war, anders als Eser, noch in einem zweiten Einzelprozess angeklagt, der aber im Herbst mit dem Büyükada-Verfahren zusammengelegt wurde. Der Vorwurf gegen die Angeklagten lautet: Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation sowie Unterstützung von bewaffneten Terrororganisationen, ihnen droht bis zu 15 Jahre Haft.
Das Tauziehen um die gerichtliche Anordnung, Kılıç für den Rest des Verfahrens freizulassen, erinnert - auch wenn andere Instanzen involviert sind - an die Fälle von Şahin Alpay und Mehmet Altan. Vor knapp drei Wochen hatte das Türkische Verfassungsgericht entschieden, die beiden seit mehr als einem Jahr in U-Haft sitzenden Intellektuellen zu entlassen. Dies ist bis heute nicht geschehen, weil sich die zuständigen Strafgerichte weigern, das Urteil umzusetzen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.