Eine fliegt übers Wespennest

Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita« am Theater Rudolstadt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein goldenes Gatter beherrscht die Bühne. Mal offen, mal geschlossen. Sperrgebiet. Zelle. Ob es sich nun öffnet oder schließt: Die wahre Irrenanstalt ist immer draußen. Wo Menschen ganz groß, ganz gewichtig tun müssen, um nicht ihre Geringfügigkeit zu spüren. Mit allem kann man groß tun: mit der Macht, mit der Moral, mit einer politischen Idee. Gott wäre es vielleicht peinlich, da hinabzusteigen, dem Teufel nicht. In seinem Roman »Der Meister und Margarita« lässt Michail Bulgakow den Teufel nach Moskau reisen und verbindet dessen herrlich rachsüchtige Menschenfopperei mit der Geschichte eines Schriftstellers, der von der Volksmacht weggesperrt wird. In der Bedrängung die Rettung: das Mädchen Margarita - Muse und Liebende. Ein Jahrhundertroman - mit seinem so tollen Witz mitten im Wahn der Diktatur, mit seiner so übermütigen Lebenslust mitten im Leiden an Zurichtung und Zensur. Der größte literarische Erfolg des von der sowjetischen Kulturobrigkeit gedemütigten Bulgakow (1891 - 1940). Ein Nach-Ruhm: Erlebt hat er nur immer Tadel, nicht mehr den Adel.

Alejandro Quintana inszenierte nun am Theater Rudolstadt eine Theaterfassung von Niklas Radström (Bühne: Henrike Engel). Vor ikonengoldenen Wänden, zwischen blinkenden Zirkuslämpchen und vor den giftfarbenen Hintergründen der Psychiatrie vollzieht sich die Erzählung von der Verlorenheit des Menschen. Der tapfer strampelt - gegen das, was Revolutionäre unter Revolution verstehen: die Menschen ins Prokrustesbett legen und abschneiden, was herauslugt. Aus solchem System herauszulugen, ist gefährlich; sich hineinzulügen, ist gedeihlich.

Der Teufel bei Bulgakow, ein Ausländer namens Voland: eine Goethe- Emanzipation, und sei’s nur, dass er, statt des Pudels Kern zu sein, einen Kater zum flink-geschmeidigen Knecht hat. Dieser Behemoth bleibt bei Marie Luise Stahl in aller Kratzigkeit doch lieblich: In Teufels Diensten muss das Weiche nicht weichen. Johannes Geißer ist der zweite Diener des Diabolischen: im britischen Biederlook genüsslich fies.

Voland ist ein Dämonienmeister, der die Menschen wie Figuren zu- und gegeneinander treibt. Matthias Winde gibt ihm die zähe Gemessenheit langer Berufserfahrung. In der gelangweilten Eleganz, im tonlos mechanischen Lachen, in seinen Exerzitien der schwarzen Magie steckt die Müdigkeit des Malochers: Nichts Neues unter der Sonne, auch wenn die ein roter Stern ist. »Der Mensch wird es sich zur Aufgabe machen, seine Instinkte auf den Gipfel des Bewusstseins zu heben, also einen höher stehenden gesellschaftsbiologischen Typus oder, wenn man will, einen Übermenschen zu schaffen.« So steht es im Rudolstädter Programmheft. Leo Trotzki. Sätze zum Fürchten. Ein Reinheitsgebot, umkränzt von schmutzigstem Lorbeer. Historisch erledigt, das alles. Die Furcht davor nicht. Missionierung ist ein Virus. In jedem Utopisten, der zur Praxis drängt, steckt ein Polizeiwachtmeister.

Geh zum Teufel!, sagten die Leute zum Sozialismus. Machte der nicht, also schickte Bulgakow diesen Voland. Der die Zukunft voraussagt und andere tödliche Unfälle. Für diesen rächenden Räsoneur aus den Werkstätten des Chaos ist Quintana ein bereitwilliger Expressionist - die Regie spielt präzise mit Farben, forciert mit stampfendem Schritt, federt in wiegendem Tanz, lässt pathetische Bewegungen in Starre ausglühen. Geldscheine fallen vom Himmel oder stecken im BH, abgeschlagene Köpfe fliegen wie heiße Kartoffeln von Hand zu Hand. Aufmärsche unter Stalin: Dokumentarfilm - verknüpft mit einem Menschenzug über die Bühne: aufgerissene Münder, eine Zeremonie der lebend Erstorbenen. Mit mumifizierten blinden Köpfen tanzen Diktatoren der Weltgeschichte, werden niedergemäht und auferstehen mit Hitlergruß gen Publikum.

Drei Stunden zirzensisch aufgeladenes Theater, bei dem ein neunzehnköpfiges Ensemble in zahlreichen Rollen zwischen Gut und Böse und Blöd wechselt und zu gelenkig spielerischer Hochform aufläuft. Wimmelbilder mit »Internationale« und »Bella Ciao«.

Theater, das sich ins aufgekratzt Komödiantische steigert, um plötzlich in tiefes Schmerzempfinden zu stürzen. Da sind die gestanzt pathetischen Revolutionsphraseure; da sind Verschrobene, Verstiegene, Verkommene; da ist der treuen Genossen Sehnsucht nach Ausschwung und Luftzug, die sich aber rasch verkürzt zum tranigen Tänzeln auf der Parteilinie. Was vor allem Markus Seidensticker als tumb tönender Literaturfunktionär sowie als schmerbackiger Conferencier grandios auf die Bühne schmiert. Und hinten, auf perspektivisch leicht verschobener Guckkastenbühne, spielt der verbotene Roman des Meisters: des Pilatus Härte gegen Jeschua, den Menschenhelfer. Johannes Arpe knochig protzend in Römerrüstungsglanz und Andreas Mittermeier gekrümmt im langen Büßerhemd - Rotweinarroganz gegen die Blutflecke des Märtyrers, schon leuchtet drohend ein Kreuz.

Am Ende brennt alles. Die Portale ein Flammenbild. Der Teufel schaut sich dieses explodierende Moskau an: Er blickt ins Publikum, seine Verachtung ist heutig. Das Wesen des Totalitarismus, so der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in einem aufgewühlten Essay jüngst in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, beruhe auf Angst. Aus ihr erwachse schleimige Feigheit, die ehrerbietend an Cheftüren klopft, um sich absichernd gemein zu machen. Der wichtigste Satz aus Stalins Zeiten laute auch heute in Russland: »Das darfst du nicht!« Im Namen einer vermeintlichen Moral, zu deren Schutz sich unentwegt fleißige Erzieher bewerben, werden »Bücher vernichtet, Filme und Inszenierungen verboten. Jeder sorgt sich um sich selbst, um sein Erzieherleben zu verlängern und nicht auf der Strecke zu bleiben«.

Gegen dies Erzogenwerden stehen der leidenschaftlich körperliche Aufruhr des Marcus Ostberg als »Der Meister«; ihm zur Seite der Dichter Besdomny, der mit scheuer Verdutztheit und einem staunenden Unbegreifen durch die Schule des Irrenhauses gehen muss, weil er nur immer die Wahrheit erzählt, und der im Rollstuhl gleichsam in die Auferstehung fährt, nämlich in die Gewissheit: Die Phantasie ist der einzig bewohnbare Platz dieser Erde. Anne Kies ist Margarita, so souverän in ihrer Opferkraft, so trancefähig in des Teufels Sphären - um die Schultern ein blaues Tuch, schön angeweht, das genügt für ihren Zauberflug über Moskau: Eine fliegt übers Wespennest und wird mit blutiger Axt und Befriedigungsschrei aus der Wohnung eines vernichtungsgeilen Großkritikers stürmen.

Ein Trauergesang russischer Frauen fragt mit einem kleinen schüchternen Pappschild: »Wo sind sie?« - die Verbotenen, Verhafteten, Verschleppten, Vernichteten, Verscharrten. Im Irrenhaus nähen die Patienten eine große Arbeiterfahne: So zerrt die soziale Nützlichkeit herab, was sie rechtfertigen will. Das Wodka-Delirium stolpert als Kollektiv durch die Szene - überhaupt betreibt Quintana das Chorische im Dienste hauptsächlich einer bitteren Wahrheit: Die Seele ist eine Quantität, die in dem Maße abnimmt, wie Einzelne sich zu einer Masse zusammenschließen.

Nur zum Schluss erzählt eine Menschenmenge die ganz andere Geschichte. Die Bühne füllt sich mit Lesenden, sie alle rezitieren leise aus dem Roman des Meisters. Das Traumbild einer gebildeten Kittelschürzen-Elite? Was gelesen und weitererzählt werden kann, ist gewonnenes Leben. Ein Bravo für Rudolstadt!

Nächste Vorstellungen am 5. und 6. März

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