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Alltag auf dem Pulverfass

Die Mauerstadt Berlin hatte viele Facetten: Sie konnte eng und bedrohlich sein, und sie hatte ihre Oasen

Wilfried Hammer ist in einem Dorf aufgewachsen. Steinstücken hatte nicht einmal 200 Einwohner. Auf alten Luftbildern sieht es aus wie eine Insel, rings um den Ort ein heller Sandstreifen - die kahle Todeszone hinter der Mauer. Steinstücken war eine Westberliner Exklave in Potsdam, nur wenige hundert Meter von den Babelsberger Filmstudios entfernt. Nach der Teilung des Landes wurde der Ort mehr und mehr abgeriegelt, erst mit Stacheldraht, später mit der berüchtigten Mauer. Eine bewachte Buckelpiste durch den Wald nach Kohlhasenbrück war für die Steinstückener der einzige Weg nach draußen, nach Westberlin. »Nur die amerikanischen Militärpolizisten, die bei uns stationiert waren, wurden mit dem Hubschrauber abgesetzt«, erzählt Hammer. »Und die Flüchtlinge, die zu uns kamen, wurden ausgeflogen.«

Der 75-Jährige erinnert sich, wie er als Junge am Hubschrauberlandeplatz Fußball spielte und es auf einmal laut krachte. Ein Kleinbus aus Potsdam war in die Drahtverhaue gerast und hatte sich darin verfangen. »Kurz vor dem Mauerbau muss das gewesen sein. Der vordere Teil des Busses war schon in Steinstücken, der hintere noch in Potsdam«, erzählt er. »Zwei Paare kletterten hinaus und retteten sich über die Grenze. Im Bus standen sich dann DDR-Grenzsoldaten und amerikanische Militärpolizisten gegenüber - mit ihren Maschinenpistolen im Anschlag.«

Steinstücken glich einem Pulverfass. Es kam häufiger zu Zwischenfällen, aber nie eskalierte die Situation. Auch beim Streit um das Fluchtfahrzeug gab es eine Einigung. Es wurde schließlich aus den Drahtzäunen gezogen und nach Potsdam abtransportiert.

Der 13. August 1961 gilt als Stichtag für den Mauerbau in Berlin. Doch nicht überall wurde das Bollwerk gleichzeitig errichtet. In Steinstücken begann der Bau erst im Winter 1963/64. »Nicht wenige Steinstückener empfanden dies als beruhigend«, erinnert sich Wilfried Hammer. Ihnen gab das Bauwerk Sicherheit. Denn sie lebten mit der Angst, doch noch der DDR zugeschlagen zu werden. Einen Versuch hatten Volkspolizisten im Oktober 1951 unternommen, als sie die Exklave besetzten. Nach vier Tagen griffen die Amerikaner jedoch ein, woraufhin die DDR-Polizisten wieder abzogen.

Mit dem Ausbau der Grenzanlagen waren die Zeiten vorbei, in denen es gegenseitige Besuche gab und die Babelsberger zum Einkaufen in den Tante-Emma-Laden kamen. Die deutsche Teilung bedeutete ein Leben in einer bizarren Übergangszeit - die nicht ewig andauern konnte, mögen Betrachter heute sagen. Und doch konnten es viele kaum glauben, als die Grenze im November 1989 plötzlich offen war und über Nacht alles anders sein sollte. Als der erste Überschwang abebbte und die Mauerspechte aufhörten zu picken, stellte sich eine Gewöhnung an die neuen Verhältnisse ein. Allmählich begannen sich die weißen Flecken des Unbekannten zu lichten. Menschen, die in Berlin um die Ecke wohnten, aber ganz unterschiedlich lebten, kamen sich näher - was nicht immer heißt, dass sie auch zueinander fanden.

***

Als die Mauer fiel, war für Osman Kalin aus Kreuzberg die Gartensaison bereits zu Ende. Das Leben in seiner Laube unmittelbar an der Mauer am Bethaniendamm ruhte. Zu Weihnachten bekam er dieses Mal kein Päckchen aus Ostberlin, wie in den Jahren zuvor. Er vermutet, dass es ein Grenzsoldat war, der ihm Jahr für Jahr eine Flasche Wein und Gebäck zukommen ließ, aber erfahren hat er das nie. Einige Zeit blieb der Grenzstreifen am Bethaniendamm noch eine wilde Straße. Dann verschwanden die Grenzanlagen, und der Luisenstädtische Kanal wurde rekonstruiert. Doch Osman Kalin blieb.

Der Rentner mit dem weißen Bart kümmerte sich nicht um die Zeitenwende. Er fing im Frühjahr darauf an, den Garten zu bestellen wie immer, pflanzte Zwiebeln, Knoblauch und türkischen Schwarzkohl an. Um Erlaubnis hatte Osman Kalin nie jemanden gefragt. Als er 1983 begann, die ersten Beete anzulegen, wusste er auch gar nicht, an wen er sich hätte wenden sollen. Die Freifläche, nur wenige Meter von seinem Haus entfernt, war seit Jahren verwildert. »Manchmal wurden dort Autos repariert«, erinnert sich sein Sohn Mehmet. Müll lag dort herum, den sein Vater wegräumte.

Osman Kalin ahnte jedoch nicht, dass die Grenzsoldaten das Geschehen von einem nahen Turm aus ganz genau beobachteten. Die Mauerlinie folgte am Bethaniendamm nämlich nicht exakt dem Grenzverlauf. Die Fläche, auf der Osman Kalin krautete, gehörte zum Hoheitsgebiet der DDR. Es dauerte nur wenige Wochen, als ein Soldat des Grenzregiments Nummer 33 durch ein Tor in der Mauer zu ihm kam, um die Besitzverhältnisse zu klären. Osman Kalin beteuerte, auf seine alten Tage nur ein wenig gärtnern zu wollen. »Der Soldat glaubte ihm offenbar. Er sah in ihm keinen Agenten und auch niemanden, der einen Fluchttunnel gräbt«, erzählt der 52-jährige Mehmet Kalin. Sein Vater durfte weitermachen.

Mittlerweile sind die Obstbäume, die sein Großvater einst pflanzte, hoch gewachsen, doch der Rentner kommt nur noch selten in den Garten. Er ist alt geworden, will im September seinen 93. Geburtstag feiern. Mehmet Kalin kümmert sich seit einer Weile schon um das Anwesen. Als er einen zehn Meter tiefen Brunnen bohren ließ, um endlich eine bessere Wasserversorgung zu haben, bemühte er sich um eine Genehmigung dafür beim zuständigen Bezirksamt - und bekam sie schließlich. Es ist die einzige Erlaubnis, die seine Familie jemals für das Gelände mit der wild zusammengezimmerten Laube erhalten hat. Windschief steht sie da mit ihren zwei Ebenen, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.

Mehmet Kalin führt durch die Räume der Hütte. Oben gibt es ein helles Sommerzimmer und ein Winterzimmer mit einem Ofen. »Manchmal sitzen wir hier zusammen und rösten Maronen.« Zwei Brandanschläge gab es auf die Laube - 1991 und 2003. Die Kalins ließen sich nicht abschrecken, sie bauten die Hütte beide Male wieder auf. Dass es Neonazis waren, glaubt Mehmet Kalin nicht. Eher vermutet er Neid. Weil sein Vater Osman sich genommen hat, was er brauchte und eine mit Bauzäunen umfriedete Oase geschaffen hat.

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Das Leben in Steinstücken war zu Mauerzeiten beengt. Die Exklave reicht nur ein paar hundert Meter von Nord nach Süd, etwas mehr von Ost nach West. Zudem durchtrennt die Bahnstrecke von Berlin nach Dessau die Exklave. Wilfried Hammer und seine Frau Elke laufen durch die Bernhard-Beyer-Straße, die 1972 nach einem Beschluss der vier Mächte zur Verbindungsstraße nach Kohlhasenbrück ausgebaut wurde. Der von Mauern umsäumte Korridor machte die aufwendigen Hubschraubereinsätze nach Steinstücken überflüssig. Am Ortsausgang blieben jedoch die bewaffneten DDR-Grenzposten. »Als ich mit den Kinderwagen an ihnen vorbei musste, war das eine gruselige Atmosphäre«, erinnert sich Elke Hammer. Sie hat die ständige Überwachung trotz aller Normalität in den Beziehungen immer als Bedrohung wahrgenommen.

Heute erinnert an die Luftbrücke ein Denkmal am ehemaligen Hubschrauberlandeplatz, zwei senkrecht in die Höhe ragende Rotorblätter. Um die Pflege kümmert sich der örtliche Bürgerverein, der mit seinen 80 Mitgliedern das Herzstück von Steinstücken ist. In dem Vereinsheim ist die Geschichte der Teilung noch präsent. Eine große US-Fahne hängt dort von der Decke, und an den Wänden sind Bilder gerahmt vom Besuch des ehemaligen amerikanischen Militärgouverneurs Lucius D. Clay vom September 1961.

Sein Abstecher nach Steinstücken war eine Machtdemonstration. Wilfried Hammer erinnert sich noch genau, wie Clay mit einem Hubschrauber zu ihnen kam und den Bewohnern als Geschenk einen Transformator mitbrachte. »Unser Strom kam aus Potsdam und unterlag oft Schwankungen; deshalb flackerte das Fernsehbild«, erzählt Hammer. »Mit einem Trafo konnte das behoben werden.« Nach dem Clay-Besuch kamen auch die amerikanischen Militärpolizisten dauerhaft nach Steinstücken, um den Bewohnern mehr Sicherheit zu geben.

Wilfried Hammer erzählt auch von einem Verrückten unter den Stationierten: »Als der betrunken war, schoss er Laternen an der Grenzanlage kaputt.« Im Sommer 1963 war das, Da gab es eine Reihe von Zwischenfällen in Steinstücken. Mal zerschnitten Militärpolizisten Grenzzäune, mal bedrohten sie DDR-Grenzer mit einer Handgranate. Die dokumentierten alles. Auch die von Hammer erwähnten Schüsse tauchen in ihren Berichten auf. Fotos zeigen Laternen, die geradezu durchsiebt worden sind. Das Feuer wurde aber nicht erwidert.

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Auch die Kalins erhielten einmal prominenten Besuch. Vor drei Jahren kam der ehemalige türkische Präsident Abdullah Gül mit dem türkischen Botschafter Hüseyin Karslioglu nach einer Tour durch Berlin zu ihnen in die Laube. »Drei Stunden saßen wir zusammen«, erzählt Mehmet Kalin. »Es war Ramadan, deshalb haben wir nichts gegessen und getrunken. Aber am Abend wurden wir ins Konsulat zum Fastenbrechen eingeladen«, erinnert er sich.

Ihr Kleingarten mit dem Hutzelhäuschen und der besonderen Geschichte ist für Touristen längst zu einer Anlaufstation auf der Mauerroute geworden. Täglich halten Gruppen davor. Mehmet Kalin hat Reportern schon oft die Geschichte seiner Familie erzählt. Eigentlich freut er sich darüber, »aber kaufen kann ich mir dafür nichts«, sagt er. Diesen Winter hat der Straßenbauer wieder einmal keinen Job. An der Eingangstür zur Laube hat er einen Schlitz für Spenden eingelassen.

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Nach Steinstücken dagegen verirren sich Touristen eher selten. Es ist eine ruhige Wohngegend, die sich in den letzten Jahren verändert hat. »Es wurde viel gebaut«, erzählt Wilfried Hammer. »Jetzt haben wir bestimmt 300 Einwohner.« Beinahe doppelt so viele wie früher. Die Beschaulichkeit ist damit ein wenig verloren gegangen.

Auch Babelsberg hat sich ausgebreitet. Der Universitätscampus reicht mittlerweile bis in den ehemaligen Grenztreifen hinein. Zusammengewachsen mit Potsdam sei Steinstücken deshalb aber noch lange nicht, meint Wilfried Hammer. »Diese unsichtbare Grenze gibt es noch immer, zumindest bei den Älteren.«

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Wenn Mehmet Kalin in der Stadt unterwegs ist, denkt er nicht mehr an hüben und drüben. Natürlich nicht. Die Köpenicker Straße entlangzufahren, ist für ihn das Normalste auf der Welt geworden. »Auch die Köpi ist gleich um die Ecke«, sagt er. Er sieht die Leute zu den Partys und Konzerten in dem ehemaligen besetzten Haus an seinem Gartenhaus vorbeipilgern, das so aussieht, als wäre es eine Hütte von ihnen, den Alternativen. Kurz nach dem Mauerfall hatte sich auch eine Wagenburg um ihren Garten herum gruppiert. Doch näher gekommen sind sich die Kalins und die Linken nicht. Zwar sind sie Nachbarn, aber es gibt nur wenige Anknüpfungspunkte zwischen ihnen. Wohl niemals würde Mehmet Kalin auf eine Party in die Köpi gehen. Er kennt zwar das Haus, aber eigentlich bleibt es für ihn ein weißer Fleck auf der Landkarte.

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