Polens Historie als Kampfzone
Die PiS verfolgt in der Geschichtspolitik zwei Stoßrichtungen - direkt und indirekt
Inmitten der Debatte um das umstrittene »Holocaust-Gesetz« in den vergangenen Tagen machte der ARD-Korrespondent in Warschau, Jan Pallokat, auf ein bemerkenswertes Phänomen aufmerksam: Gibt man von einem PC mit polnischer IP-Adresse, also einem Standort in Polen, den Suchbegriff »Polnische …« ein, ergänzt das Suchprogramm unter anderem die Begriffe »Wehrmacht« und »Konzentrationslager«, beides Dinge, die es niemals gab. Führt man dieselbe Suche von einer deutschen IP-Adresse aus, wird »Polnische …« automatisch ergänzt mit »Ostsee«, »Flagge« oder »Frauen« - keine Spur von KZs oder ähnlichen Begriffen.
Zwei Länder, zwei Standorte, zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungen. Während die PiS und andere rechtsnationale Kräfte den Standpunkt vertreten, das polnische Ansehen in der Welt werde unentwegt in den Dreck gezogen, herrscht außerhalb Polens vielfach Unverständnis: Viel mehr als einige unglückliche Formulierungen von Politikern oder Medien wurden gar nicht registriert, Polens Martyrium während des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besatzung nicht in Zweifel gezogen.
Die Geschichtspolitik der PiS sorgt zwar vor allem im Ausland für Widerspruch und sogar diplomatische Verwicklungen, wie die Reaktionen Israels und der USA zeigen - im Kern ist sie jedoch nach innen gerichtet. Nationalistisch orientierte Bewegungen und Parteien leben existenziell vom Freund-Feind-Schema, von der strikten Trennung zwischen innen und außen, weil dies letztendlich definiert, wer zur Gesellschaft gehört - und wer ausgeschlossen werden kann. Ebenso von ebenjener doppelbödigen Kommunikation, die nach außen wirkt, aber nach innen gerichtet ist; ein Muster, das in Deutschland immer wieder bei der AfD zu beobachten ist.
Diese Geschichtspolitik zeitigt durchaus Erfolge: In Umfragen bewegt sich die PiS derzeit um die 50 Prozent, das heißt nahe der absoluten Mehrheit. Die nächsten Wahlen zum Sejm stehen regulär erst 2019 an, in diesem Jahr finden allerdings Kommunalwahlen statt, im Herbst will Präsident Duda zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit am 11. November außerdem ein Verfassungsreferendum durchführen. Der PiS geht es derzeit um Machtsicherung über den Zeitraum von Legislaturperioden hinaus.
An der Oberfläche zeigen sich zwei Stoßrichtungen der PiS-Geschichtspolitik: zum einen der Antagonismus mit Russland, der allmonatlich mit dem Gedenken der Opfer des Absturzes von Smolensk im April 2010 gefestigt wird. Der Absturz und Tod von 96 Insassen war in der PiS-Lesart die Folge eines Anschlags: Also ein Mord ausgerechnet auf dem Weg zum Gedenken an Katyn, den Ort, der im polnischen Gedenken für den Massenmord an bis zu 25 000 Offizieren und anderen polnischen Staatsbürgern steht, die im April und Mai 1940 vom sowjetischen NKWD getötet wurden.
Die zweite Stoßrichtung geht nach Westen, zielt aber indirekt. Die Debatte um die deutsche Verantwortung am Holocaust und die immer wieder vorgetragenen Forderungen nach Reparationen richten sich nach Berlin, zielen aber genauso auf Brüssel. Reparationsansprüche werden gegenüber Deutschland nicht sehr offensiv vorgetragen. Die EU wiederum ist bei weiten Teilen der polnischen Bevölkerung weiterhin sehr beliebt, von der Freizügigkeit und den Nettozahlungen, deren größter Empfänger Polen nach wie vor ist, profitieren viele Menschen. Ein »Polexit« scheint derzeit ausgeschlossen - wenn auch nicht undenkbar. Denn aus Brüssel weht Warschau derzeit der schärfste Gegenwind entgegen: Vertragsverletzungsverfahren wegen der Justizreformen, vorangetrieben von der EU-Kommission, während Donald Tusk, ein Pole, EU-Ratspräsident ist. Dazu die beschlossene Absetzung des EU-Parlamentsvizepräsidenten Ryszard Czarnecki (PiS), der gegen die liberalkonservative polnische Europaabgeordnete Róża Thun wetterte und sie mit einem »Szmalcownik« verglich. Der Begriff bezeichnet in Polen Nazi-Kollaborateure, die Juden verrieten. Auslöser war der Auftritt von Thuns in der Arte-Reportage »Polen vor der Zerreißprobe - Eine Frau kämpft um ihr Land«, in der sie vor Reformen der PiS-Regierung und deren Gefahr für Polens Demokratie warnte.
Tusk, dessen Großvater als Kaschube 1944 noch zur deutschen Wehrmacht einberufen wurde und Thun, die von 1981 bis 1991 in der Bundesrepublik lebte - in der Lesart der Rechten in Polen Vertreter deutscher Interessen, die via Brüssel gegenüber Polen durchgesetzt werden und die sich auf Titelbildern der regierungsnahen »Gazeta Polska« als Sujet immer wieder finden. In der aktuellen Kontroverse um das »Holocaust-Gesetz« goss Tusk wiederum noch Öl ins Feuer, indem er twitterte, dass die Initiatoren des Gesetzes den verleumderischen Ausdruck der »polnischen Todeslager« erst in der ganzen Welt verbreitet hätten. Nach dem Gesetz müssten sie eigentlich bestraft werden, suggeriert Tusk. Die Geschichte Polens und deren Interpretation sind wieder einmal zum politischen Kampfgebiet geworden. Unter die Räder kommt in der aufgeladenen Atmosphäre vor allem die Geschichtswissenschaft selber.
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