- Politik
- Große Koalition
Habemus Koalitionsvertrag
SPD wird offenbar mit Olaf Scholz das Finanzressort übernehmen / Martin Schulz soll Außenminister werden und gibt Parteivorsitz ab / CSU-Chef Seehofer soll Innenministerium bekommen
Berlin. Nach gut 24 Stunden zähen Ringens haben Union und SPD bei ihren Koalitionsverhandlungen einen Durchbruch geschafft. Die Unterhändler einigten sich am Mittwochmorgen auf einen Koalitionsvertrag und die Verteilung der Ministerien.
Die Sozialdemokraten sollen sechs Ministerien bekommen. Demnach wird die SPD das Finanzressort und das Außenministerium übernehmen. Für den wichtigen Posten des Finanzministers ist offenbar Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz vorgesehen. Er soll zudem Vizekanlzer werden. SPD-Chef Martin Schulz will nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur Außenminister werden. Kurz nach der Bundestagswahl hatte Schulz noch kategorisch ausgeschlossen, in ein Kabinett von Merkel einzutreten. Außerdem soll die SPD auch die Ministerien für Familie, Justiz und sowie das für Umwelt erhalten.
Sollte die Große Koalition nach dem noch ausstehenden SPD-Mitgliederentscheid zustande kommen, erwägt Schulz laut eines Berichts der »Süddeutschen Zeitung« den Parteivorsitz abzugeben. Demnach soll ihm die derzeitige Fraktionschefin Andrea Nahles folgen. Das sei zwischen Schulz und Nahles so verabredet, berichtete die Zeitung. Allerdings müssten die Parteigremien am Mittwoch erst noch zusammenkommen. Seit der Bundestagswahl ist Nahles Vorsitzende der SPD-Fraktion, in der vorherigen Großen Koalition war sie Bundesarbeitsministerin.
Juso-Chef Kevin Kühnert äußerte sich nach Bekanntwerden der SPD-Personalpläne auf Twitter: »#NoGroko bedeutet nicht nur die Ablehnung eines Koalitionsvertrags (über den plötzlich niemand mehr spricht)«, schrieb er. »#NoGroko bedeutet auch die Absage an den politischen Stil, der heute aufgeführt wird.«
Auch CSU-Chef Horst Seehofer soll als Innenminister nach Berlin wechseln – sein Ressort soll durch die Bereiche Bau und Heimat aufgewertet werden. Daneben soll die CSU die Ressorts für Verkehr/Digitales und Entwicklung bekommen. Die Seehofer-Personalie kommentierte LINKEN-Chef Bernd Riexinger mit den Worten, der CSU-Chef werde ein »Regierungsbeauftragter für rechtsoffene Dampfplauderei«.
Die Unterhändler hatten sich in der Nacht bei ihrem Finale der Koalitionsverhandlungen lange Zeit an der Frage verhakt, welcher Seite das Ministerium für Arbeit und Soziales zugeschlagen werden soll. Auch Seehofer reklamierte das Ministerium für seine Partei. Doch laut dpa-Informationen wird die SPD das Ministerium besetzen. Im Gegenzug soll die CSU die Ministerien für Verkehr/Digitales und Entwicklung besetzen.
Die CDU soll neben dem Kanzleramt das Wirtschafts-, Verteidigungs-, Gesundheits- sowie das Bildungs- und Landwirtschaftsressort erhalten. Der bisherige Kanzleramtschef Peter Altmaier solle das Wirtschaftsressort übernehmen, Ursula von der Leyen Verteidigungsministerin bleiben, hieß es am Mittwoch in Berlin. Für das Ressort Ernährung und Landwirtschaft galt die rheinland-pfälzische CDU-Chefin Julia Klöckner als Favoritin.
Die drei Parteien wollten vor Weiberfastnacht an diesem Donnerstag den Koalitionsvertrag stehen haben. Sie hatten am Dienstag zum Start in die Schlussrunde betont, eine erneute Vertagung solle nach den zwei zusätzlichen Verhandlungstagen unbedingt vermieden werden. Trotz einiger Annäherungen blieben die Gesundheits- und die Arbeitsmarktpolitik die zentralen Streitpunkte. Die Führung der Sozialdemokraten will vor allem mit Erfolgen in diesen Politikbereichen bei ihrer Basis für ein Ja zum Koalitionsvertrag werben.
Die Streitpunkte
Die SPD will weg von der »Zwei-Klassen-Medizin« von privat und gesetzlich Versicherten. Dazu soll nun eine Kommission eingerichtet werden. Diese soll eine gemeinsame Honorarordnung für die gesetzliche und die private Krankenversicherung vorbereiten. Bei der Arbeitsmarktpolitik ging es in den Verhandlungen vor allem um eine deutliche Einschränkung befristeter Arbeitsverhältnisse. Union und SPD haben sich nun offenbar auf einen Kompromissvorschlag beim Streitthema sachgrundlose Befristung geeinigt. Dieser sieht nicht das von der SPD verlangte allgemeine Verbot vor, berichtete das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Doch soll es demnach Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitern in Zukunft erlaubt sein, nur bis zu fünf Mitarbeiter ohne vorliegenden Sachgrund befristet zu beschäftigen. Ab 250 Mitarbeitern solle die Obergrenze bei 2 Prozent der Beschäftigten liegen.
Nach einem am Dienstagabend geleakten Entwurf für den Koalitionsvertrag waren auch noch andere Punkte in der Endphase der Verhandlungen strittig. Dabei ging es unter anderem darum, ob Unternehmen Abstriche bei den Arbeitszeitregeln erlaubt werden sollen, wenn sie tarifvertraglichen Bestimmungen unterliegen.
In der Außenpolitik ging es um Rüstungsexporte sowie die Ausgaben für die Bundeswehr und die Entwicklungshilfe. Die Union will sich bei den Verteidigungsausgaben dem NATO-Ziel von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nähern (derzeit 1,2 Prozent). Für die SPD hat dagegen Priorität, 0,7 Prozent in die Entwicklungshilfe zu stecken (2016: 0,52 Prozent).
Wagenknecht: »SPD schaufelt sich ihr eigenes Grab«
Kritik an den bisher bekannt gewordenen Verhandlungsergebnissen kam von den Grünen. Ihr Vorsitzender Robert Habeck kritisierte in der Mediengruppe »Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung«, Union und SPD wollten im wesentlichen die Politik der vergangenen Jahre fortsetzen, »nur nehmen sie ein bisschen mehr Geld in die Hand«. Das reiche aber nicht. Die Grüne-Covorsitzende Annalena Baerbock erklärte, sie habe Verständnis, dass Kompromisse nicht einfach seien. Doch insbesondere der »Klima-Nicht-Teil« im Koalitionsvertrag sei ein Desaster.
Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht hält die Entscheidung der SPD für eine neue Große Koalition für desaströs und hofft auf ein Nein bei der bevorstehenden Mitgliederbefragung. »Damit hat die SPD ihr eigenes Grab geschaufelt. Ob das Begräbnis stattfindet, werden die Mitglieder der SPD entscheiden«, sagte Wagenknecht der »Rheinischen Post«. »Ich hoffe, dass man noch den Mut aufbringt, in der Opposition einen Neuanfang zu wagen, statt sich an der Seite der CDU/CSU zu Tode zu regieren.« Dieser Koalitionsvertrag stelle die Weichen auf »Weiter so«. Da Union und SPD auf höhere Steuern für Superreiche und Konzerne verzichteten, werde das Geld für nötige Investitionen fehlen.
»Beim Schachern um Ministerposten top, inhaltlich flop - so kann man das Verhandlungsergebnis der #SPD zusammenfassen. Die Kompromisse sind faul und lösen keines der drängenden Probleme. Diese #Koalition hat keine Zukunft«, so Wagenknecht. Ähnlich äußerte sich LINKEN-Chef Riexinger. Der Koalitionsvertrag sei die »in Stein gemeißelte Zukunftsverweigerung« und enthalte vor allem Phrasen und Absichtserklärungen.
Linksfraktionschef Dietmar Bartsch legte der SPD-Basis nahe, den Koalitionsvertrag mit der Union beim anstehenden Mitgliederentscheid abzulehnen. »Dieser Vertrag ist für einen überzeugten Sozialdemokraten nicht zustimmungsfähig«, sagte Bartsch. Bei einer Fortsetzung der Großen Koalition auf Basis des ausgehandelten Vertrags drohten »Jahre des Stillstands«, in denen die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehe. Eine notwendige Umverteilung in Deutschland werde überhaupt nicht angegangen. In zentralen sozialen Fragen wie Rente und Kinderarmut würden allenfalls »Trostpflästerchen« verteilt.
Die LINKEN-Politikerin Martina Renner wies via Twitter auf eine andere Leerstelle im Koalitionsvertrag hin: »Null Antworten auf und null Erwähnungen von #Neonazi-Terror #Rechtsextremismus und #Rassismus. Rassistischer und rechter Terror sind kein Minderheitenproblem, sondern ein Angriff auf uns alle.« Agenturen/nd
Hinweis: Dieser Artikel wird laufend aktualisiert.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.