Man wird nicht behindert geboren

Für Raul Krauthausen sind es die gesellschaftlichen Umstände, die Menschen mit Handicap Gleichberechtigung verwehren

  • Raul Krauthausen
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor rund einem Jahr wurde das Bundesteilhabegesetz verabschiedet, das die Rechte behinderter Menschen stärken soll. Schon bei der Entstehung des Gesetzes wurde klar, dass Behindertenrechtsaktivist*innen und Politiker*innen jeweils sehr unterschiedliche Vorstellungen zum Text hatten. Trotz Protesten wurde das Gesetz beschlossen. Seitdem versucht die Behindertenrechtsbewegung, mit ihrer Kritik an der Politik der Bundesregierung wieder in die Offensive zu kommen. Ohne durchschlagenden Erfolg. Der Blick auf die Frauenrechtsbewegung könnte das ändern.

In Deutschland feiern wir in diesem Jahr das 100-jährige Jubiläum des Frauenwahlrechts. Einige Frauen dürfen allerdings bis heute nicht wählen: Rund 85 000 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung haben nicht das Recht, an Wahlen teilzunehmen - ein Verstoß gegen die UN-Behindertenkonvention. Behindertenrechtsaktivist*innen demonstrieren schon lange gegen diesen Wahlausschluss. Zu recht bewertet das Deutsche Institut für Menschenrechte »die Wahlrechtsausschlüsse (als) einen diskriminierenden und unverhältnismäßigen Eingriff in das menschenrechtlich garantierte Recht zu wählen und gewählt zu werden«.

Raul Krauthausen
Der Behindertenrechtsaktivist Raul Krauthausen moderiert die Talksendung »KRAUTHAUSEN – face to face« auf Sport1.

1908 wurde im damaligen Deutschen Reich die sogenannte Mädchenschulreform beschlossen: Mädchen wurde endlich die gleiche Schulbildung wie Jungen ermöglicht. Für Schüler*innen mit Behinderung soll heute inklusives Lernen gleiche Chancen schaffen wie für nichtbehinderte Lernende - das fordert die besagte UN-Konvention. Obwohl schon vor zehn Jahren das Ende der Förderschulen prophezeit wurde, ist davon aber nach wie vor wenig zu sehen. Der Begriff Inklusion ist zum Schreckgespenst des Schulwesens geworden. Man hält Inklusion für nicht machbar und zu teuer. Der Bildungsweg vieler Menschen mit Behinderung bleibt dadurch auf Sondereinrichtungen beschränkt: Zwei Drittel aller Schüler*innen an Förderschulen beenden sie ohne berufsqualifizierenden Schulabschluss. Dabei beweisen Studien, dass inklusive Bildung behinderte Lernende besser und nachhaltiger auf den Arbeitsmarkt vorbereitet.

Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts konnten Frauen einige Berufe erlernen. Seitdem haben sie sich Stück für Stück in das Arbeitsleben gekämpft. Vielen Menschen mit Behinderung dagegen bleibt der erste Arbeitsmarkt noch immer verschlossen. Viele von ihnen werden in die Behindertenwerkstätten geschickt. Sinnvoll ist das nicht: Die Arbeit in den Werkstätten dient mehr der Beschäftigung als der Integration in den Arbeitsmarkt.

»Man ist nicht als Frau geboren, man wird es«, schrieb einst die französische Feministin Simone de Beauvoir. Eine Erkenntnis, die sich auf Menschen mit Behinderung übertragen lässt. Ich wurde mit einem Körper geboren, der nicht der Norm entspricht und der in einer Welt, die für genormte Körper gebaut wurde, nicht ohne Hilfsmittel existieren kann. Der entscheidende Punkt ist nicht die Andersartigkeit meines Körpers, sondern die fehlende Barrierefreiheit. Die Gesellschaft hat bisher entschieden, dass eine barrierefreie Umgebung nicht wichtig ist. Würden die mich behindernden Umstände durch Barrierefreiheit wegfallen, hätte das Thema Behinderung keine Relevanz mehr.

Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie hat deutlich gemacht, dass soziale Normen von Menschen geschaffen werden, deshalb sollten Frauen und Mädchen scheinbar biologische Gründe für soziale Normen nicht akzeptieren. Auch für die Behindertenrechtsbewegung ist dies ein wichtiger Aspekt: Wie oft schon wurde nicht existierende Gleichberechtigung behinderter Menschen auf ihre biologische Unterlegenheit geschoben. Es gibt keine faktische Unterlegenheit von behinderten gegenüber nichtbehinderten Menschen. Allerdings gelten heute noch gesellschaftliche Werte, die den nichtbehinderten Menschen zur Norm erklären, und alles, was von diesem Maßstab abfällt, als degeneriert, unnormal oder minderwertig herabstuft.

Wir Menschen mit Behinderung dürfen dies nicht hinnehmen. Jede soziale Norm kann verändert werden! So wie Ngozi Adichie zu recht sagt, dass die menschengemachte Kultur verändert werden muss, wenn Frauen nach wie vor benachteiligt werden, so muss ebenfalls unsere behindertenfeindliche Umwelt verändert werden, um allen Menschen gleiche Teilhabe zu ermöglichen.

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