Spuren ins Industrieland Thüringen

Nach 1990 verschwanden viele historische Produktionsorte - ein Themenjahr soll erinnern

  • Doris Weilandt, Schweina
  • Lesedauer: 4 Min.

In diesem Jahr richtet der Freistaat Thüringen den Blick auf seine facettenreiche Industriegeschichte. In dem vor 200 Jahren noch aus einigen Fürstentümern bestehenden Land entwickelten sich ab 1800 vielerorts vor allem kleine und mittlere Betriebe, die sich im internationalen Maßstab durchaus als wettbewerbsfähig erwiesen. Waren aus Porzellan- und Textilmanufakturen, Produkte der Glasmacher aus dem Thüringer Wald und der optischen Industrie aus Jena waren bald weltweit gefragt.

Im Zentrum eines nun gestarteten Themenjahres zu diesem Geschichtsabschnitt steht die Ausstellung »Erlebnis Industriekultur - Innovatives Thüringen seit 1800«, die ab Juni in der restaurierten Shedhalle in Pößneck zu sehen sein wird. Anhand von 500 Exponaten werden Geschichten über Produkte, Arbeits- und Lebensbedingungen, landschaftliche Gegebenheiten, Werkstoffe, Energie und Kommunikation erzählt.

Die Objekte kommen aus stadtgeschichtlichen Museen, die die regionale Industriegeschichte als Sammelgebiet ernst nehmen. Die meisten Produktionsstätten dagegen sind verschwunden. Als Ergebnis der Deindustrialisierung nach 1990 und im Gefolge des anschließenden Verkaufs von Betrieben über die Treuhandanstalt wurden viele Produktionsstätten abgerissen - etliche trotz Denkmalschutz. In keiner anderen Zeit ist so viel an historischer Industriesubstanz vernichtet worden, wie in den letzten 25 Jahren.

Auch in Schweina bei Bad Liebenstein brechen die Dächer der denkmalgeschützten Shedhallen ein. Der bis 1990 zum VEB Kammgarnspinnerei Niederschmalkalden gehörende Betrieb wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Johann Christian Weiß gegründet. Er war der Sohn eines Unternehmers aus Langensalza, der die erste maschinelle Kammgarnspinnerei Deutschlands betrieb. Das technische Knowhow der Firma »Weiß & Söhne« kam auch in Schweina zum Einsatz, was zu schnellem Wachstum führte. Die Zahl der Beschäftigten stieg bis 1890 auf 400.

Das Areal des einstigen Vorzeigebetriebs ist weitläufig. Neben den Produktionshallen existieren noch eine Fabrik aus der Ursprungszeit und das Schloss Glücksbrunn, im Jahr 1703 als Nebenwohnsitz des kur-sächsischen Hofrates Johann Friedrich Trier errichtet. Er hatte die Schürfrechte für ein Kupferbergwerk vor Ort gekauft. Später wurden in dem Gebäude Wolle und anderes Material gelagert.

In diese Anlage hat sich der Thüringer Künstler Ralf Täfler verliebt. Seit zwölf Jahren restauriert er nahezu allein das barocke Gemäuer. »Ich grabe mich in die Schönheit zurück«, sagt er. Diese Schönheit schufen Baumeister aus Dresden, darunter auch Steinmetzen, die an der Frauenkirche mitgearbeitet haben.

Als »Abfallprodukt« des Kupferbergbaus kam damals Kobalt zutage, das für die Bemalung von Porzellan und Keramik sehr gefragt war. Das angeschlossene Blaufarbenwerk, das das Farbpigment Smalte erzeugte, lieferte bis nach Delft. Dieser Bergbaugeschichte verdankt Schloss Glücksbrunn seinen Namen - als Abwandlung des Bergmanngrußes »Glückauf«. Täfler hat es nach 1990 entdeckt und trotz aussichtsloser Position auf den Erwerb immer wieder nachgefragt. Als der letzte Investor, der ein Spitzenrestaurant einrichten wollte, nichts mehr von sich hören ließ, konnten Täfler und seine Frau das Schloss kaufen.

»Ich bin mein Leben lang mit ›lost places‹ umgegangen - ein Bergwerk, eine verlassene Straße in St. Louis in Missouri, ein Schlachthof und Schloss Wilhelmsthal«, erzählt Täfler. Die Orte haben ihn zu besonderen Kunstprojekten angeregt, zu Malerei, Installationen oder Holzplastiken.

In Glücksbrunn ist es nun aber anders. Das Schloss selbst ist das Kunstobjekt, das Täfler ganz und gar fordert. Als er ankam, war der gesamte Grundriss durch kleine Wohnungen verbaut. Die ersten Wochen und Monate hat er entkernt, das Haus in den Ursprungszustand versetzt. Damit die Mauern wieder atmen konnte, mussten auch der Zementputz abgehackt und sämtliche Versiegelungen entfernt werden.

»Wir spielen mit der Echtheit«, sagt der Künstler, der in den Räumen unterschiedliche Farbfassungen freigelegt hat und sich dann für ein Gesamtkonzept entscheiden musste. Wer heute durch das Schloss läuft, der ist beeindruckt von der wiederhergestellten Ursprünglichkeit. Täfler zeigt, dass Erhaltung möglich ist, wenn man will. Auch ohne große Unterstützung. Für Schloss Schönbrunn gab es bisher gerade mal 20 000 Euro Fördermittel.

Erste Konzerte und Lesungen gab es bereits. Familie Täfler möchte das Schloss für die Kunst öffnen, in der Beletage steht ein Konzertflügel. Für die »Lange Nacht der Hausmusik« am 23. März, mit der in Thüringen die Bachwochen eröffnet werden, sucht das Ehepaar noch einen Musiker (schloss-gluecksbrunn@web.de).

Die Leitausstellung »Erlebnis Industriekultur - Innovatives Thüringen seit 1800« wird am 6. Juni in Pößneck eröffnet und dauert bis zum 9. September.

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