Bilanz der Sozialpolitik: Ambitioniert gescheitert

Sicheres Existenzminimum, stabile Rente, weniger Kinderarmut. Die Ampel wollte hoch hinaus

Bei einer Satire-Aktion der Landesarmutskonferenz Niedersachsen wird »Gerechtigkeit weggekegelt«. Zum Ende der Ampel-Legislatur sorgen sich Sozialinitiativen um fehlende Reformen.
Bei einer Satire-Aktion der Landesarmutskonferenz Niedersachsen wird »Gerechtigkeit weggekegelt«. Zum Ende der Ampel-Legislatur sorgen sich Sozialinitiativen um fehlende Reformen.

»Mit dem Rentenpaket II stabilisieren wir die Rente dauerhaft«, versprach Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) noch im vergangenen Oktober. Nicht einmal einen Monat später ging die Ampel zu Bruch. Zugegeben, das Zitat ist kein neuer Dauerbrenner wie »Die Rente ist sicher« des Sozialministers Norbert Blüm (CDU) der 80er Jahre. Übrig blieb von den beiden Versprechen jedoch ähnlich viel.

Am Ende schaffte es das Rentenpaket II nicht mehr über den Kabinettsentschluss hinaus. Damit entfällt die Festsetzung des Rentenniveaus auf 48 Prozent. Das sich verschiebende Verhältnis von Beitragszahlenden und Rentner*innen führt nun dazu, dass Renten langsamer als Löhne steigen. Das sei »eine bittere Nachricht für die 21,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner und für alle zukünftigen Generationen«, bilanziert Matthias W. Birkwald, Rentensprecher der Gruppe Die Linke im Bundestag, gegenüber »nd«. Gut sei dagegen, dass es damit auch das sogenannte Generationenkapital der FDP nicht mehr in den Bundestag geschafft habe. Es sollte die Rente über Investitionen in einen Kapitalstock mitfinanzieren.

Ausbleiben werden zudem Einmalzahlungen, die die Ampel Rentner*innen im Gegenzug für längere Arbeitszeiten versprach. Auch das im Koalitionsvertrag angekündigte Konzept zur Alterssicherung für Selbstständige, die die Deutsche Rentenversicherung (DRV) hätte entlasten sollen, kommt nicht. Umgesetzt wurde nur ein Zuschlag für Bezieher*innen von Erwerbsminderungsrenten, also jene, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können.

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Laut dem im November veröffentlichten Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung sinkt das Rentenniveau ohne die angekündigten Maßnahmen bis 2038 auf 45,2 Prozent – schon die Absenkung von 53 auf 48 Prozent verdoppelte die Altersarmut. Zugleich steigen die Beitragszahlungen bis 2027 nicht, bleiben also stabil bei 18,6 Prozent des Bruttolohns.

Wie es mit den Renten in einer kommenden Koalition weitergehen könnte, ist unklar. Auch wegen gemischter Signale der CDU. Diese Woche vollführte sie entgegen dem eigenen Grundsatzprogramm eine Kehrtwende bei der Rente mit 63 für besonders langjährige Versicherte, die sie nun doch erhalten wolle. Ein Schritt Richtung SPD, die die Rente zum zentralen Wahlkampfthema machen will, oder in Richtung potenzieller Wähler*innen? Laut DRV bezogen im vergangenen Jahr 279 134 Neu-Rentner*innen die Rente mit 63.

Die Linke fordert indes, Generationen in der Debatte nicht mehr gegeneinander auszuspielen. »Das Rentenniveau noch weiter absinken zu lassen, wäre die größte Ungerechtigkeit für die kommenden Generationen. Denn auch sie haben das Recht auf gute oder mindestens stabile Renten im Alter. Gute Renten sollten ebenso selbstverständlich sein wie massive Investitionen in Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene«, so Birkwald.

Zu Investitionen in Kinder und Jugend meldete sich in den vergangenen drei Jahren vor allem eine andere Partei zu Wort: die Grünen. »Die Kindergrundsicherung leitet einen Systemwechsel ein« – Zitat Familienministerin Lisa Paus. Die Reform war der Versuch der Grünen, sich von einer Öko- zu einer öko-sozialen Partei weiterzuentwickeln. Insbesondere nach dem Desaster des Gebäudeenergiegesetzes, als es die Grünen versäumt hatten, die beiden Themen zu vereinen.

Um Kinderarmut zu bekämpfen, sollte für jährlich 12 Milliarden Euro eine zentrale Behörde aufgebaut werden, die Förderungen künftig unbürokratisch auszahlen würde. Heute sind mehr als ein Drittel derjenigen, die Grundsicherung erhalten, Kinder und Jugendliche. Dabei beträgt ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur knapp 17 Prozent. Jedes fünfte Kind ist außerdem armutsgefährdet. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil viele Familien zusätzliche staatliche Leistungen nicht in Anspruch nehmen.

»Als Kinderrechtsorganisation müssen wir von drei verlorenen Jahren sprechen.«

Thomas Krüger Deutsches Kinderhilfswerk

Übrig blieb von den Plänen der Familienministerin ein Budget von 2,4 Milliarden Euro ab 2025 – das nie beschlossen wurde. Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, zeigt sich gegenüber »nd« enttäuscht: »Als Kinderrechtsorganisation müssen wir von drei verlorenen Jahren sprechen, wenn es um die wirkungsvolle Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland geht.«

Es sei nicht gelungen, eine überparteiliche Gesamtstrategie gegen Kinderarmut zu entwickeln, die über die rein finanziellen Instrumente hinausgehe. »Versagt haben wir als Gesellschaft insgesamt, weil wir die Interessen der betroffenen Kinder und Jugendlichen seit Jahren systematisch hintanstellen«, ist Krügers düsteres Resümee. Das vorzeitige Ende der Kindergrundsicherung ist aber auch eine Chance für eine Reform über Entbürokratisierungs- und Digitalisierungsansätze hinaus.

An anderer Stelle hat die Digitalisierung gefruchtet – so zum Beispiel beim Bürgergeld. Es sollte die Wunden heilen, die Hartz IV bei der SPD gerissen hatte. Die Regierung wollte den Vermittlungsvorrang abschaffen, einen respektvollen Umgang in Jobcentern ermöglichen sowie weniger auf Strafen und stattdessen mehr auf Weiterbildung setzen. 2023 wurde es tatsächlich umgesetzt. Expert*innen lobten, dass sich Arbeitslose leichter weiterbilden könnten, in den Jobcentern zeigte man sich erfreut über voranschreitende Digitalisierungsprozesse.

Zugleich hagelte es bald Kritik, auch von Jobcenter-Angestellten – unter anderem, weil sich durch die Einführung des Bürgergelds ihre Arbeitsbedingungen zum Teil verschlechterten. Denn bei der Reform kürzte die Ampel die Mittel der Behörden, nun fehlte es an Geld fürs Personal. Nicht einmal ein Jahr nach der Einführung diskutierte die Ampel im Rahmen des Wachstumspakets daraufhin Verschärfungen. So sollten Personen, die »zumutbare Arbeit« ablehnten, Leistungskürzungen um 30 Prozent erhalten.

Helena Steinhaus, Geschäftsführerin des Vereins Sanktionsfrei, blickt mit gemischten Gefühlen auf das Ende der Koalition. »Durch das Ampel-Aus sind die zusätzlichen Sanktionen nicht eingetreten. 2025 erwartet uns viel Schlimmeres«, sagt sie in Anspielung auf die Pläne der CDU zu »nd«. Die Union kündigte bereits an, ihr Wahlkonzept unter anderem durch Bürgergeldkürzungen finanzieren zu wollen. Expert*innen des Instituts für Arbeitsmarktforschung warnen indes vor Instabilitäten durch kurzfristige Änderungen der Reform.

Im Herbst gab es außerdem eine Nullrunde beim Bürgergeld. Laut Steinhaus hätten zumindest die Wohn- und Stromkosten angepasst werden müssen. Bürgergeldbezüge hätten mit den 2024 stark gestiegenen Kosten nicht mitgehalten. Der Regelsatz liegt derzeit bei 563 Euro, laut Paritätischem Gesamtverband hätte er bereits 2023 bei 813 Euro liegen müssen, um wirksam vor Armut zu schützen.

Weitere große Ziele hatte die Ampel im Bereich Inklusion. Einige Vorhaben standen bereits kurz vor der parlamentarischen Befassung. Dazu gehörten die inklusive Kinder- und Jugendhilfe, das Behindertengleichstellungsgesetz oder das zweite Gesetz für den inklusiven Arbeitsmarkt. Laut dem UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Deutschland vor allem im Bereich der Förderschulen Aufholbedarf. Förderschulen gehören zu den sogenannten Sondersystemen, die Inklusion qua Definition erschweren. Positive Entwicklungen gab es jedoch auch. So enthält der Aktionsplan für ein Inklusives Gesundheitswesen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Maßnahmen zur Barrierefreiheit wie auch zu einer besseren Qualifikation für die Gesundheitsberufe bezogen auf Menschen mit Behinderung.

»Der Koalitionsvertrag enthielt viele wichtige Neuerungen für Menschen mit Behinderung, die angesichts der großen Herausforderungen noch nicht umgesetzt waren«, bilanziert Ulla Schmidt, Vorsitzende der Lebenshilfe, gegenüber »nd«. »Wir hoffen, dass diese Anliegen von einer neuen Regierung weitergeführt werden.«

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