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  • Gedenkstätte Fontanepromenade

Kreuzberger Gedenkstätte für NS-Zwangsarbeiter

Historiker Nachama spricht sich für Dachverband von Gedenkorten zu Zwangsarbeit aus

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Nachama, im Haus in der Fontanepromenade 15 in Kreuzberg wird eine Gedenkstätte entstehen. Von 1938 bis 1945 befand sich dort die »Zentrale Dienststelle für Juden«, die rund 26 000 jüdische Berliner zur Zwangsarbeit in Privatbetrieben verpflichtete. Welche historische Bedeutung hat dieser Ort?

Die Fontanepromenade 15 steht für einen Ort der Täter. Die »Zentrale Dienststelle für Juden« operierte wie eine Art Zwangsarbeitsamt für eine gesellschaftlich ausgesonderte Gruppe. Das Ziel der Nationalsozialisten war es, die noch im Deutschen Reich verbliebenen Juden bestmöglich auszubeuten und zu drangsalieren. Die Schikane vor Ort war an Bösartigkeit nicht zu überbieten. Die Leute mussten bei Wind und Wetter im Freien stehen, Sitzmöglichkeiten und sanitäre Einrichtungen waren nur völlig unzureichend vorhanden. Den Menschen wurde nach dem Bedarf der Betriebe Arbeitsstellen zugewiesen, die Entlohnung war lächerlich gering. Wer nicht zum »geschlossenen Arbeitseinsatz« - so der NS-Terminus für Zwangsarbeit - antrat, wurde in seiner Privatwohnung von der Gestapo abgeholt. Dabei war die Angst vor der Deportation in die Konzentrationslager stets präsent. Spätestens ab Ende 1941 hatte man davon gehört, was im Osten vor sich ging. Die Zwangsarbeit erschien als das geringere Übel.

Zur Person
Andreas Nachama ist Direktor der Stiftung Topographie des Terrors. An der Freien Universität Berlin studierte der Sohn des langjährigen Berliner Oberkantors Estrongo Nachama Geschichte. 2000 wurde er im US-Bundesstaat New York zum Rabbiner ordiniert. Seitdem betreut der 66-Jährige ehrenamtlich die liberale Gemeinde Sukkot Schalom in der Synagoge Herbartstraße. Über den zukünftigen Gedenkort in der Fontanepromenade 15 in Kreuzberg und die vom rot-rot-grünen Senat geplante Stiftung Zwangsarbeit sprach mit ihm für »nd« Jérôme Lombard.

Ihre 2017 verstorbene Mutter, Lilli Nachama, hat einmal gesagt, dass die Fontanepromenade 15 für sie stets als »das« Synonym für Zwangsarbeit gestanden hat.

Ja, für meine Mutter blieb das Haus in Kreuzberg immer die »Schikanepromenade«. Sie selbst wurde von dort zur Zwangsarbeit verpflichtet. Sie musste zunächst bei einer Kartonagenfabrik arbeiten, später bei Siemens in Spandau. Das ist zumindest das, was ich sicher weiß. Vor ein paar Jahren habe ich mir die Innenräume des Gebäudes zum ersten Mal angeschaut. Durch die spätere Nutzung als Versammlungsraum einer Kirchengemeinde war von dem vormaligen Interieur aber nicht viel geblieben. Ich konnte mir den historischen Ort nicht richtig vorstellen. Als ich meine Mutter bat, mich zu begleiten, um mir die Räumlichkeiten und deren damalige Nutzung zu erklären, weigerte sie sich. Sie wollte dieses Gebäude nicht wieder betreten.

Wäre die Errichtung einer Gedenkstätte in der Fontanepromenade im Sinne Ihrer Mutter?

Ich glaube, für sie persönlich wäre es wichtiger gewesen, wenn die Profiteure der Zwangsarbeit deutlicher gebrandmarkt würden. Schauen Sie, ich bin als Kind in Berlin in einem Haushalt ohne Siemensgeräte aufgewachsen. Das war für meine Mutter emotional einfach ein absolutes No-Go. Als sie in der Bundesrepublik für die Zwangsarbeit entschädigt worden ist, ging es ihr nicht um das Geld, sondern um die Symbolik. Dass das Geld nicht vom Staat, sondern von Siemens kam, war für sie sicherlich ein Stück Genugtuung.

Die »Topographie des Terrors« erarbeitet zusammen mit der »Initiative Gedenkort Fontanepromenade 15« das zukünftige Nutzungskonzept der Informations- und Begegnungsstätte. Welche Ideen gibt es?

Wir werden ein Konzept nicht auf einen Schlag erarbeiten und umsetzen können. Die baulichen Gegebenheiten vor Ort sind für eine öffentliche Erinnerungsstätte nicht optimal. In dem einen Teil des Hauses entstehen zwei Privatwohnungen und zwei Büros. Damit müssen wir umgehen. Das Problem ist, dass der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sich nicht schon früher für einen Gedenkort ausgesprochen hat. Dann hätte der Investor die Restaurierungsarbeiten in diesem Sinne durchführen können. Jetzt müssen wir mit dem arbeiten, was wir vor Ort haben. Das wird sicherlich seine Zeit dauern. Erinnerungsstätten fallen nicht vom Himmel. Auch die »Topographie des Terrors« ist nicht über Nacht entstanden.

Wie läuft die bisherige Zusammenarbeit mit der Initiative?

Dass die Fontanepromenade 15 in Zukunft ein Gedenkort wird, ist primär das Verdienst der engagierten Kreuzberger Bürger. Sie haben den Stein ins Rollen gebracht, und dafür müssen wir ihnen danken. Die Initiative wird es auch sein, die den zukünftigen Betrieb der Gedenkarbeit für die Fontanepromenade 15 managen wird. Ich bin froh, dass wir mit Blick auf das Nutzungskonzept konstruktiv zusammenarbeiten.

Rot-Rot-Grün plant die Einrichtung einer Stiftung, in der alle Gedenkstätten, die sich dem Thema Zwangsarbeit in Berlin widmen und dazu forschen, zusammengefasst werden sollen. Ist das sinnvoll?

Ich erachte das Vorhaben durchaus als sinnvoll. Eine solche Stiftung würde die verschiedenen Gedenkorte näher zusammenbringen und eine neue gemeinsame Plattform schaffen. Es geht bei der Stiftung nicht darum, den einzelnen Initiativen das Heft des Handelns aus der Hand zu nehmen. Ganz im Gegenteil. Im Sinne eines Dachverbandes würde das zusätzliche Forum der Stiftung den Austausch befördern und die Forschungsarbeit zum Thema weiter voranbringen.

Wie gut ist das Thema Zwangsarbeit in Berlin erforscht?

Es gibt noch viele weiße Flecken. Während die historischen Fakten im Überblick bekannt sein mögen, wird es mit Blick auf die Einzelheiten und Details häufig dünn. In Berlin haben wir es mit rund 3000 Adressen zu tun, an denen Zwangsarbeiter wohnten oder arbeiteten. Zudem existieren noch viele Firmen, die während der Zeit des Nationalsozialismus Zwangsarbeiter beschäftigten. Die Wenigsten haben ihre Geschichte lückenlos aufgearbeitet. Es handelt sich also um ein extrem breites Themenfeld. Gerade das Beispiel der Fontanepromenade 15 zeigt doch, dass auch heute noch Bedarf an geschichtspolitischen Initiativen besteht.

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