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Da läuft etwas in Freiberg
Ehrenamtliche Integrationsinitiativen halten Beschluss über Zuzugsstopp für überflüssig und einen Fehler
Die Halle ist wieder voll. Immer montags, sagt Stefan Benkert, hätten sich die Triathleten des TSV 92 Freiberg zum Krafttraining getroffen - zeitweilig mit eher mäßigem Zuspruch. Dann luden sie auch Flüchtlinge zum Sporttreiben ein: am Donnerstag zum Lauftreff, am Montag zum Zirkeltraining in der Halle. Dort, sagt Benkert, »reichen jetzt die Matten manchmal nicht mehr aus«. Markus Zschorsch, der neben ihm an einem gemütlichen Ecktisch in der Kaffeerösterei Momo in Freibergs Altstadt sitzt, hätte da einen Rat: »Mach doch«, sagt er ironisch, »einen Zuzugsstopp«.
Ortstermin in Freiberg, jener sächsischen Stadt, die kürzlich als erste Kommune in Sachsen einen solchen »Zuzugsstopp« beschlossen hat: nicht mit ironischem Unterton, sondern in vollem Ernst. Die Universitätsstadt im Erzgebirge will beantragen, vier Jahre lang keine Asylbewerber mehr aufnehmen zu müssen. In der Stadt mit ihren 42 000 Einwohnern leben nach Angaben der Verwaltung 2000 Asylbewerber - 70 Prozent derer, die im Landkreis Mittelsachsen registriert sind. Damit komme man an Grenzen, vor allem bei der Versorgung mit Plätzen in Kitas und Schulen. Freiberg müsse »handeln, bevor wir handlungsunfähig werden«, erklärte nach dem Beschluss der SPD-Oberbürgermeister Sven Krüger - auch, um die »bisher gute Integrationsarbeit in der Stadt nicht zu gefährden«.
Benkert und Zschorsch gehören zu jenen Bürgern, die sich in Freiberg um Integrationsarbeit kümmern - wenn auch nicht im Auftrag des Rathauses. Der eine koordiniert die »Mitlaufgelegenheit«: ein internationaler Trupp von Sportlern, der unter dem Motto »Laufen verbindet« Einheimische und Zugewanderte, Flüchtlingskinder wie Seniorinnen aus Freiberg gemeinsam auf die Beine bringt. Der andere ist im Verein »Freiberg grenzenlos« aktiv, der zum Beispiel die »Küche für alle« (Küfa) ersonnen hat. Die Idee: Langjährige und neue Freiberger bekochen sich einmal im Monat gegenseitig und kommen ins Gespräch - nicht nur über das Essen. Das Konzept findet Anklang: Diese Woche feiert die Küfa zweijähriges Jubiläum.
Beide Initiativen sind ungefähr zur gleichen Zeit entstanden; Ende 2015, Anfang 2016, als hohe Zuwandererzahlen in Freiberg wie vielerorts in der Bundesrepublik für schwierige Zustände sorgten: Turnhallen, die zu Asylbewerberheimen umfunktioniert wurden; Behörden, die augenscheinlich überfordert waren; dazu »Wutbürger«, die ihren Protest gegen die »Flüchtlingswelle« auf die Straße trugen. Die Initiative »Freiberg grenzenlos« gründete sich als bewusster »Gegenpol« gegen diese ressentimentgeladene Haltung, sagt Zschorsch: »Wir wollten zeigen, dass es auch Leute gibt, die anders denken.« Die Läufer, sagt Benkert, seien derweil nicht vordergründig von »politischen Gedanken« inspiriert gewesen. Sie hätten von Laufgruppen in anderen Städten gehört, die Flüchtlingen eine »sinnvolle Beschäftigung« hätten anbieten wollen. Also luden sie Asylbewerber aus Freiberger Unterkünften ein. Die Einladung wurde dankbar angenommen; es formte sich eine Laufgruppe, die nicht nur zweimal in der Woche durch die Parks am Freiberger Stadtring rennt, sondern auch bei Läufen in ganz Sachsen - und demnächst in der Bundeshauptstadt: Beim BerlinMarathon wollen sie die Halbdistanz in Angriff nehmen.
Es sind Initiativen und Aktivitäten, mit denen eine Stadt ein Beispiel geben könnte - zumal eine Stadt wie Freiberg, die einerseits im sächsischen Vergleich als international gelten kann, weil an ihrer Bergakademie viele Studierende aus dem Ausland eingeschrieben sind, die andererseits aber wie viele Mittelstädte im Freistaat unter dem demografischen Wandel leidet, binnen 25 Jahren rund 7000 Einwohner verloren hat und etwas Zuzug gut vertragen könnte. Das Signal, das der Stadtrat mit dem Beschluss zum Zuzugsstopp aussendete und das bundesweit wahrgenommen wurde, war indes ein anderes: Das Boot sei voll, man müsse daher »die Notbremse« ziehen, wie es über der Erklärung des OB heißt. Die AfD applaudiert und zeigt per Infostand auf dem Obermarkt, dass man hinter der Entscheidung steht. Bürger wie Ruth Kretzer-Braun dagegen sind entsetzt: »Nun spricht alles über Freiberg«, sagt sie: »Aber leider nicht im Positiven.«
Ruth Kretzer-Braun müht sich seit Jahren und mit beachtlicher Energie darum, Zuwanderern in Freiberg den Start zu erleichtern. Die Lehrerin, die mit ihrem Mann Ende der 80er Jahre in Äthiopien gearbeitet und seitdem einen Faible für Afrika hat, gehörte vor 20 Jahren zu den Mitgründern des Arbeitskreises Asyl und Integration: ein Verein, in dem etwas mehr als ein Dutzend Ehrenamtliche jene Jobs erledigen, die eigentlich staatliche Stellen erledigen müssten, wenn das Postulat der Kanzlerin vom »Wir schaffen das!« ernst genommen würde. Kretzer-Braun und ihre Mitstreiter unterrichten nicht nur unentgeltlich Deutsch für Bewohner von Flüchtlingsheimen. Sie helfen diesen auch, wenn es darum geht, Briefe an Ämter und Krankenkassen zu schreiben; sie organisieren Jobs, Praktika und Lehrstellen für junge Männer aus Eritrea, schreiben Briefe an Anwälte und Behörden, um den stockenden Nachzug von Familien zu befördern, oder organisieren Rollstühle und Pflegebetten für kranke Flüchtlinge. »Wenn ein Anruf kommt«, sagt die drahtige Rentnerin, »gehen wir in die Spur«.
Zu solch etablierten Initiativen haben sich in jüngerer Zeit viele neue gesellt. Das »Sprachcafé« etwa, das alle vier Wochen in der Kaffeerösterei Momo stattfindet und Partner zum Erlernen fremder Sprachen vermitteln will; nicht nur für Asylbewerber, sondern auch für andere Ausländer, die aus unterschiedlichsten Motiven in Freiberg leben und Kontakt untereinander und mit »Alteingesessenen« suchen. Oder die »Begegnungs- und Integrationsgärten«, die der Naturschutzbund NABU betreibt und die internationale Begegnungen quasi am Gemüsebeet ermöglichen sollen - was auch kuriose Erlebnisse einschließt: »Wassermelonen«, sagt Holger Lueg, »gedeihen in Freiberg nicht so gut.«
Die Melonen hatten syrische Kleingärtner anbauen wollen, nachdem sie eine völlig verwahrloste Parzelle in der Anlage »Am Häuersteig« in einen Garten zurückverwandelt hatten: eine alte Laube abreißen, den Müll entsorgen, Unkraut jäten, Brachflächen wieder urbar machen. All das unter den interessierten Blicken der Nachbarn - bei denen, ist Lueg überzeugt, es auch Vorurteile gegenüber den Zugewanderten gegeben haben dürfte. Jetzt, glaubt der Mann vom NABU, »sagt mancher aber vielleicht auch: Immerhin können sie arbeiten«.
Initiativen wie die »Begegnungsgärten« setzen, anders etwa als der Aktionskreis Asyl und Integration, nicht auf Einzelfallhilfe, auf Sprachunterricht und juristischen Beistand. Vielmehr geht es um Begegnung; um einen Ansatz, den Sozialpädagogen »niedrigschwellig« nennen würden: Wer gemeinsam gärtnert - oder läuft oder kocht -, redet miteinander. Falls sich im Gespräch Vorurteile in Luft auflösen: gut so. Falls nicht, ist man immerhin in Kontakt. Das sei in der Zeit ab 2015 zu oft nicht der Fall gewesen, sagt Lueg. In der deutschen Bevölkerung standen sich Ansichten diametral gegenüber; die einen betonten Probleme, Ängste, Kosten; die anderen verwiesen auf wirtschaftlichen Nutzen, Fachkräftelücken und Rentenkassen. Einen direkten Draht zu Zugewanderten hatten weder die einen noch die anderen: »Das wollten wir ändern.«
Die Gärten, sagt Lueg, habe man dabei bewusst dort gesucht, wo die sozialen Spannungen potenziell am größten sind: am Plattenbauviertel, wo Asylbewerber, Rentner und sozial Schwache nebeneinander wohnen und womöglich um wenige Wohnungen konkurrieren. »Sorgen«, sagt Lueg, »haben ja nicht nur Flüchtlinge.« Die wiederum, fügt er hinzu, werden aktiv einbezogen. Die Gärten betreut ein Lehrer aus Syrien, den der NABU als Bundesfreiwilligen angestellt hat. Viele Zuwanderer, sagt Lueg, seien »sehr engagiert und leben sich schnell in neue Kulturen ein. Wenn man mit ihnen arbeitet, knüpft man sofort ein Netz« - eine Erkenntnis, die die Politik bisher weitgehend ignoriere.
Das gilt auch in Freiberg: Der Rathauschef hat die Begegnungsgärten bisher nicht besucht. Laut seiner öffentlichen Erklärungen hält er freilich viel von den freiwilligen Integrationshelfern. Die Stadt, betonte ihr Oberbürgermeister nach dem Beschluss zum Zuzugsstopp, habe sich »vom ersten Tag an den Herausforderungen des Flüchtlingsstroms gestellt« - »unterstützt von unzähligen Ehrenamtlichen«, wie er hinzufügte. Wer mit den so Gelobten spricht, bekommt freilich den Eindruck: Die Unterstützung ist recht einseitig ausgeprägt. Wenn der Rat zuletzt über Zuschüsse für Vereine beraten habe, »waren Flüchtlingsinitiativen nicht mit dabei«, sagt Kretzer-Braun. Und auch Wertschätzung jenseits finanzieller Zuwendungen können sie offenbar nicht erwarten. Die »Mitlaufgelegenheit« etwa stoße außerhalb der Stadt auf euphorische Reaktionen, sagt Stefan Benkert: Ein renommierter Uhrenhersteller sei derart angetan von der guten Einbeziehung der Flüchtlinge, dass er die Teilnahme am Berliner Marathon unterstütze. Vom Rathaus sei dagegen bisher keiner zu einem Lauftreff aufgekreuzt: »Es ist ein wenig traurig, dass man derlei Anerkennung in der Stadt nicht erfährt.« Auch die »Küche für alle« wartet noch auf den Besuch des Rathauschefs. »Wenn man uns braucht, schmückt man sich mit uns«, sagt Markus Zschorsch. Ansonsten aber habe er »den Eindruck, dass wir eine gewisse Randexistenz fristen«, fügt er an - »oder sogar unerwünscht sind«.
Denn Engagierte wie Zschorsch wissen natürlich, dass es im Rathaus nicht nur vollmundige Bekenntnisse zur Integration gibt wie die, mit denen Krüger seine Erklärung zum Zuzugsstopp schmückte. Neben dem OB arbeiten dort auch Männer wie CDU-Baubürgermeister Holger Reuter, der nach der Bundestagswahl erklärt hatte, er halte eine Koalition mit der AfD für möglich. Ein »Freiberger Appell«, den die CDU der Bergstadt im Herbst veröffentlichte, hatte Positionen vertreten, die selbst in dem als sehr rechts geltenden CDU-Landesverband nicht alltäglich sind. Gefordert wurden nicht nur die Rücktritte von Kanzlerin Angela Merkel und Generalsekretär Peter Tauber, sondern auch verstärkte Abschiebungen und ein Aufnahmestopp für Asylbewerber. Zumindest diese Forderung ist in der Stadt inzwischen Beschlusslage.
Holger Lueg nennt die Entscheidung des Stadtrates »irritierend« und »enttäuschend« - »zumindest für den Teil der Bevölkerung, der nicht nur die Nachteile sieht«. Für Menschen wie ihn, die der Ansicht sind, dass ein Problem nur immer größer wird, je länger man darüber spricht, so lange, bis man sich selbst im Weg steht. Die meinen, dass die Stadt durch die Zuwanderung nicht vor unlösbaren Schwierigkeiten steht, sondern »dass da Menschen gekommen sind, denen man mit einer gewissen Neugier begegnen sollte«. Ob man das im Rathaus ähnlich sieht; ob man dafür noch auf Rückhalt in der Stadtpolitik rechnen kann, wissen viele in Freiberg seit dem Ratsbeschluss nicht mehr, sagt Lueg: »Wir wissen gerade nicht, wohin die Reise geht.«
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