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Unsere glutenfreien Mittelstandsvaginas werden euch verschlingen
Wer Blähungen, Fürze und Durchfall nicht ertragen kann wie ein echter Prolet, kann nur eines sein: der Klassenfeind
Mondieu, ich gestehe! Ich bin eine von diesen Teufelshexen! Ich bin eine von denen, die im Restaurant alle wahnsinnig machen, weil sie den Kellner nach dem Weizengehalt der hauseigenen Pommes fragen. Ich frage auch nach dem Laktosegehalt von Käse, jawohl! Und bestelle laktosefreien Milchkaffee! So ist es. Ich vertrage kein Gluten und keine Laktose. Es ist wohl das Beste, ihr verbrennt mich auf dem Scheiterhaufen.
Denn ihr habt ja so recht. Mit unseren laktose- und glutenvergrämten Därmen, mit unseren biomöhrenschlabbernden Kleinkindern und den Maxikosi-umbaubaren Kinderwägen zerstören wir die proletarische Kultur in den Innenstädten der westlichen Welt. Wer sind wir, die wir es wagen, Pizza in Frage zu stellen? Spaghetti mit Tomatensauce? Und Schrippen!
Unterhauthaare sind das, was nicht sein darf. Sie jucken, kratzen, pieksen und sind überaus hässlich. Borstig. Dreckig. Peinlich. Weil die Gesellschaft etwas ganz anderes von Frauen erwartet: Glatt zu sein. Geschmeidig. Und rein. In dieser Serie erscheinen feministische Kurzgeschichten und Kolumnen über das, was unter der Haut wächst. Garstiger Widerstand gegen die sexistische Oberfläche: gegen den Überhautdreck.
Alle Artikel dieser Serie finden Sie unter: dasND.de/unterhauthaare
Wir sind die eigentlichen Gentrifiziererinnen. Wir verdrängen beste deutsche Kuhmilch mit argentinischem Soja und urdeutschen Weizen mit afrikanischer Zwerghirse. Vergesst den Kapitalismus, wir sind die wahren Botinnen des Teufels. Gemeinsam mit der glutenfrei-Marke Schär bilden wir die geheime Weltregierung.
Und wer mit dem Weizen anfängt, macht auch vor dem White Trash nicht halt. Beste proletarische Kartoffelkinder vertreiben wir mit einer Allianz aus schwäbisch-spanisch-französischen Zweisprachgören. Unseren doppelten Latte mit Mandelmilch bestellen wir auf englisch. Und wir gründen Kindercafés aus keinem anderen Grund, als um mit unseren tropfenden Brüste und schreienden Bälgern verkaterte Festivalheimkehrer zu verstören. In der Öffentlichkeit! Statt auf der Couch, Verzeihung: auf dem Sofa im heimischen Wohnzimmer, wie es sich gehört!
Wenn man es genau nimmt, sind unsere trächtigen Bäuche sogar direkt schuld an steigenden Mieten und Zwangsräumungen. Kaum schnappt sich wieder ein Investor einige Blocks, kolonisieren wir die Straßen mit unseren Kinderwägen. Manchmal zerren wir Hartz-IV-Bezieher und Leiharbeiter sogar persönlich an den Haaren aus ihren Wohnungen, oder wir erdrücken sie einfach zwischen unseren riesigen Milchbrüsten.
Unsere Schreihälse verschrecken subversive Punks vom Bürgersteig, unsere Filzröcke feudeln den Bierduft aus Neukölln und hinterlassen einen ekelhaften Dinkelgestank. Und statt die Kapitalisten an den Laternen aufzuhängen, wie es echte Proletarier tun würden, fordern wir Frauenquoten. Beteiligung! Am System! Uns geht es gar nicht um die soziale Revolution, uns geht es nur um Wohlfühlkapitalismus!
Feministinnen, Mütter, Glutenersatzmittelkonsumentinnen, das ist alles das gleiche Pack. Die Vorhut des grünliberal-urbanen Mittelstandsmuffs. Vergesst internationale Großkonzerne, EU-Leitlinien oder neoliberalen Wettbewerb. Es gibt nur eine Gruppe, die für soziale Ungleichheit verantwortlich ist: glutensensible Frauen! Denn wer Blähungen, Fürze und Durchfall nicht ertragen kann wie ein echter Prolet, kann nur eines sein: der Klassenfeind. Hängt uns auf, hängt uns kinderwagenschiebenden, dinkelmuffinkauenden und leiharbeiterfressenden Frauen bloß auf! Sonst wird das nichts mit dem Sozialismus. Denn sonst stülpen wir unsere milchsäuregereinigten Mittelstandsvaginas über die ganze Stadt und verschlingen euch mit einem Happs.
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