Leben in Übersetzungen

François Jullien plädiert dafür, auf den Begriff »Identität« zu verzichten.

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, ist sich sicher: »Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.« Dieser Satz erzürnte erwartungsgemäß rechte Gemüter, welche seit einigen Jahren die aus Frankreich eingeführte und von dem Neurechten Autor Renauld Camus formulierte Schnapsidee vom »Großen Austausch« verbreiten.

Würde man sich selbst auf das Niveau jener begeben wollen, die an einen politisch und wirtschaftlich gelenkten Austausch der westlichen Kultur durch eine islamische glauben, könnte man diesen »Theorie«-Importeuren die nationalchauvinistischen Worte von Hans Sachs aus Richard Wagners »Meistersingern« entgegenhalten: »Und welschen Dunst mit welschem Tand, sie pflanzen uns in deutsches Land.« Jedoch sollten derlei ironische Spielereien nicht dafür sorgen, Özoguz’ Aussage unhinterfragt zu goutieren.

Bleiben wir bei Wagner. Steht seine Musik nicht für eine »spezifisch deutsche Kultur« schlechthin? Ist Özoguz für diese Töne, jenseits der Sprache, taub? Wagners gleichaltriger italienischer Kollege Guiseppe Verdi jedenfalls wirkte einer kulturellen Nivellierung entgegen, als er einmal rhetorisch fragte: »Meinen Sie, ich hätte unter dieser Sonne, unter diesem Himmel den ›Tristan‹ schreiben können?« Es wäre unredlich, diese Worte als Zeitkolorit abzutun - zumal für Opernliebhaber doch evident ist, was Verdi meint und was landläufig als kulturelle Differenz bezeichnet wird. Der deutschen Oper steht die italienische gegenüber, wenngleich man beide schätzen kann (Verdi liebte den »Tristan«).

Indem Verdi aber vom mediterranen Klima spricht, beschreibt er weniger einen Unterschied als einen Abstand. Um Letzteres geht es auch dem Philosophen und Sinologen François Jullien in seinem Essay »Es gibt keine kulturelle Identität«. Der Titel klingt zunächst nach einer Bestätigung von Özoguz’ These, doch das Büchlein kämpft an zwei Fronten: Gegen jene, die die Vielfalt der Kulturen durch eine globale Nivellierung bedrohen - und schlussendlich noch die Nationalsprachen aufgegeben wollen -, und gegen jene, die diese Vielfalt durch nationalistische Einfalt und Einhegung gefährden.

Jullien plädiert zunächst dafür, auf den Begriff »Identität« zu verzichten, da dieser etwas Unveränderbares und Essenzialistisches meine, das bloße Behauptung bleibe und schließlich eine kulturelle Verödung verursachen würde. Viel produktiver und klüger sei es, von »Abständen« auszugehen, »welche die Kulturen in Gegenüberstellung und daher in Spannung zueinander aufrechterhalten«. Nur so offenbare sich das Gemeinsame, das nicht jedoch das Gleichartige ist: »Nur wenn es uns gelingt, ein Gemeinsames zu fördern, das keine Reduktion auf das Uniforme darstellt, wird das Gemeinsame dieser Gemeinschaft aktiv sein, so dass wir die Möglichkeit haben werden, dieses wirklich zu teilen.«

Nicht eine Gleichmacherei sei anzustreben, durch die etwa der Westen lange Zeit glaubte, über andere Kulturen herrschen zu dürfen, vielmehr gelte es, von den durch die Abstände hervorgerufenen Spannungen zu profitieren und dabei den Anderen als gleichberechtigt anzuerkennen. Aus diesem Grund differenziert Jullien zwischen einem mit hegemonialen Anspruch auftretenden Universalismus und dem Universellen: »Das Universelle, um das man kämpfen muss, ist ein rebellisches Universelles, das niemals vollständig ist; oder sagen wir ein negatives Universelles, das dem Komfort jeglicher zum Stillstand gekommener Positivität entgegenwirkt.«

Was auf den ersten Blick reine Wortklauberei zu sein scheint, erweist sich als absolut schlüssig, weil andere Begriffe das Denken verändern. Während die Rede von der Differenz eine undurchlässige Grenze zieht, kann ein Abstand überwunden oder zumindest verringert werden. Weit davon entfernt, Eineweltseligkeit zu predigen, geht es dem Autor darum, dass Kulturen füreinander offen bleiben und sich wechselseitig in Spannung versetzen. »Der eine hört nicht auf, sich im anderen zu entdecken, sich in der Gegenüberstellung sowohl zu erforschen als auch zu reflektieren. Will er sich selbst erkennen, bleibt er vom anderen abhängig und kann sich nicht auf das, was seine Identität wäre, zurückziehen.«

Dieses Prozesshafte ist es, das die Kulturen untereinander bereichert, weshalb Jullien von »kulturellen Ressourcen« spricht, die genutzt, ja, regelrecht »ausgebeutet« werden dürfen. Etwa kann das Christentum zur »existenziellen Förderung des Subjekts« beitragen. Wenngleich Jullien den Begriff der Ressource von dem der Güter absetzt, bleibt die ökonomische Metaphorik dennoch bestehen und hinterlässt einen faden Beigeschmack, diagnostiziert doch der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem preisgekrönten Sachbuch »Die Gesellschaft der Singularitäten«, dass die neue herrschende Klasse, die »kulturelle Mittelklasse«, sich die Ressourcen anderer Kulturen einverleibt, gern kulinarisch, um sich dadurch zu schmücken und die eigene Besonderheit zu demonstrieren.

Problematisch wird der sonst sprachlich so behutsame Essay an dem Punkt, an dem das zukünftige Subjekt beschrieben wird: Zu wünschen sei ein Subjekt, »das ausgehend von einer Sprache oder einem bestimmten Milieu durch andere Sprachen und Milieus zirkuliert und dabei aus den Ressourcen der einen wie der anderen schöpft«. Dieses sich in der Sphäre der Zirkulation bewegende Ich aber ist, so zeigt Reckwitz eindrücklich, längst diskursbestimmend. Anzutreffen ist dieses Subjekt im urbanen, kreativen Milieu. Und »Abstände« überwindet es einfach mit dem Flugzeug.

Dieser theoretische Blindfleck ist besonders erstaunlich, da der Essay sich zugleich vehement gegen eben jene globale Uniformisierung richtet, die als Verarmung bezeichnet wird und die für Özoguz offenbar keine Gefahr darstellt. So ist die weitgehende Abschaffung des Latein- und Griechischunterrichts an französischen Schulen für Jullien ein unverzeihlicher Kniefall vor dem Zeitgeist.

»Es gibt keine kulturelle Identität« bietet weit mehr als die Beantwortung der Titelthese, es ist ein im besten Sinne konservativer Abgesang auf das alte Europa mit seiner Vielfalt und seinen produktiven Spannungen. Von einem »denkfaulen Relativismus« ist die Rede, der nur durch einen Dialog zwischen den Kulturen gestoppt werden könne - wobei dann zuvörderst geklärt werden müsse, in welcher Sprache dieser Dialog geführt werden soll. Eine vermittelnde Sprache gibt es laut Jullien nicht - »schon gar nicht das globalisierte Englisch«. Deshalb müsse der Dialog, dem ebenfalls das Konzept des Abstands zugrunde liegt, sowohl in der einen als auch in der anderen Sprache geführt werden. »Die Sprache der Welt kann nur die Übersetzung sein.« Vielleicht sind also die Übersetzer die eigentlichen Kulturhelden.

François Jullien: »Es gibt keine kulturelle Identität«, Suhrkamp, geb., 96 S., 10€.

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