Die Zukunft der Vergangenheit

Die diesjährige Retrospektive steht unter dem Motto »Weimarer Kino - neu gesehen«

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 4 Min.

Die öffentliche Debatte darüber, wie die Berlinale künftig geleitet werden soll, ist nur an ihrer Oberfläche eine Personaldebatte. Die Krise geht tiefer und in strukturelle Dimensionen hinein. Auch die Programmachse Retrospektive sollte neu betrachtet werden.

Die Zeit großräumiger Personal-Retrospektiven (etwa zu Fritz Lang) ist offenbar vorbei, auch die der Produktionsfirmen-Überblicke. Filmhistorische Retrospektiven wachsen auch anderswo rasch heran, und Berliner Kinos wie die Brotfabrik oder das Bundesplatz-Kino spielen begrenzt-konzentrierte Programme. Sie orientieren sich personell: nach Regisseuren oder Stars. Das ist vernünftig und den Kräften der Veranstalter angemessen, ohne die Hybris eines globalen Platzhirschs.

Andererseits bleibt das filmhistorische Wissen junger Leute seit Jahren auf einem gleichbleibend niedrigen Niveau oder ist vollkommen auf Hollywood-Produktionen fokussiert. Auch wachsen neue Generationen von Zuschauern und Filmhistorikern nach. Insofern haben Retrospektiven stets einen kontinuierlich aufklärerischen Auftrag zu erfüllen: Auch filmhistorisches Wissen muss weitergereicht werden.

Die diesjährige Retrospektive der Berlinale steht unter dem Motto »Weimarer Kino - neu gesehen« und präsentiert eine Auswahl von 30 Streifen (aus etwa 3900 Filmen, die zwischen 1918 und 1933 entstanden sind). Gruppiert ist sie in drei thematischen Schwerpunkten: »Exotik«, »Alltag« und »Geschichte«. Unter eine dieser Sparten lässt sich nun allerdings nahezu jeder Film einordnen. Und so bietet das Programm von allen Genres etwas, boshafte Zuschauer könnten es auch eklektizistisch nennen.

Dabei laufen allemal sehenswerte Filme, und man kann wirkliche Entdeckungen machen. »Das Abenteuer einer schönen Frau« (1932, Hermann Kosterlitz) bietet ein frühes und seltenes Filmbeispiel, in dem eine Frau zur resoluten Protagonistin wird, eigentlich eine flotte Salon-Schmonzette. Eine mondäne Bildhauerin entwickelt sich zur selbstbewussten Alleinerziehenden, die ihren Lebenspartner eigenmächtig auswählt. Der Film wirkt wie ein früher Vorgriff auf aktuelle Gender-Debatten. Sehenswert auch Leni Riefenstahls bizarres Berg-Spektakel »Das blaue Licht« (1932), ein Felsen-Märchen. Oder zwei Waterkant-Filme: Erich Waschnecks »Die Carmen von St. Pauli« (1928) und Werner Hochbaums »Brüder« (1929), beide sozial engagiert und ziemlich genau in Figuren- und Milieuzeichnung, der eine ein Krimi, der andere ein heftiges Pamphlet für Streiks.

»Das alte Gesetz« (1923, E. A. Dupont), als Berlinale Classic deklariert, aber zur Retrospektive gehörend, ist eine veritable Wiederentdeckung über die allmähliche Emanzipation eines jüdischen Schauspielers in die Gesellschaft des alten Wien. Die Geschichte spielt im 19. Jahrhundert, aber ihre Beziehungen zur Gegenwart sind nicht zu übersehen. Sodann bieten interessant-unterhaltsame Filme von Expeditionen Blicke in die Welt, etwa »Im Auto durch zwei Welten« (1927) der Fabrikantentochter Clairenore Stinnes oder »Milak, der Grönlandjäger« (1927) von Bernhard Villinger und Georg Asagaroff. Daneben stehen flotte, amüsante Tonfilmoperetten. Allenthalben sind exzellente Schauspielerleistungen zu sehen. Aber insgesamt gelingt diesem Kino nur selten der Schritt aus dem Kosmos der Salons, der Rüschen und Fräcke in den gesellschaftlichen Alltag jener Jahre. Das Kinoversprechen einer heilen Welt bleibt fest im bürgerlichen Milieu verwurzelt.

Vergessene Filme zu zeigen - wie dieses Jahr -, bedeutet noch nicht, sie wirklich neu zu sehen. Im Katalog - aber eben nur dort - beschreiben einige prominente Regisseure ihre persönlichen Eindrücke. Außer ihrem großäugigen Staunen über die Leistungen ihrer Vor-Vor-Väter wird hier neues Sehen angeboten, von praktizierenden Enkeln. Sie schwärmen geradezu über ihren persönlichen Gewinn. Andreas Veiel beispielsweise preist die »erzählerische Kraft« in den »aufgeklärten Sozialdramen« Gerhard Lamprechts wie »Der Katzensteg« (1927). Dietrich Brüggemann immerhin bescheinigt den Filmen eine »Leichtigkeit, die in den Abgrund geschaut hat« und meint damit soziale Gegebenheiten, die zum NS-Regime hinführen, so auch in »Ihre Majestät die Liebe« (Joe May, 1931). Wim Wenders entzückt sich über die geheimnisvoll rätselhafte Schauspielerin Anna May Wong in »Song« (1928, Richard Eichberg).

Wie teilt sich ihr Enthusiasmus anderen Zuschauern mit? Wie kriegt man das zusammen: ihr »neues Sehen« als einmaliger Vorgang, als Text in einer Publikation und die Vorführung der gepriesenen Filme im Kino? Die Antwort darauf muss wohl offen und das Dilemma dauerhaft bleiben. Man kann ja schlecht in den Kinos einen Vorleser neben die Leinwand stellen - zumal man diese Filme unbedingt im Kino sehen muss und nicht auf Bildschirm oder Laptop.

Die 30 Filme der Retrospektive sind gegenüber den 385 Filmen, die die Berlinale insgesamt zeigt, ein schmaler Beitrag. Aber sein filmhistorischer Wert ist - nehmt alles nur in allem - unbestreitbar bedeutend.

Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother, Annika Schaefer (Hg.): Weimarer Kino - neu gesehen. Bertz + Fischer, 252 S., geb., 29 €.

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