Verhandlungen zur Rettung von Afrin

Gespräche zwischen Damaskus und YPG / medico fordert Überprüfung von Chlorgas-Vorwürfen gegen die Türkei

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Möglicherweise steht ein Abkommen zwischen der Nordsyrischen Föderation und der syrischen Regierung zur Verteidigung Afrins gegen türkische Angriffe kurz bevor. »Darüber gibt es zur Zeit Verhandlungen mit der Regierung«, sagte der ehemalige Vorsitzende der syrisch-kurdischen Partei PYD und derzeitige Sprecher für Auswärtige Angelegenheiten der »Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft in Nordsyrien« (TEV-DEM), Salih Muslim, am Montag in Berlin. Noch würde es laut dem Politiker aber keine Abmachung geben. Die syrisch-staatliche Nachrichtenagentur Saana hatte zuvor berichtet, dass Regimetruppen bereits Afrin erreicht hätten.

Der Journalist und Regionalexperte Mutlu Civiroglu erklärte, dass die Gespräche andauern würden: »Vertrauenswürdige Quellen sagen, dass beide Seiten nah an einem Ergebnis sind, aber gewisse externe Faktoren die Abmachung noch verhindern.«

Salih Muslim wies daraufhin, dass sich vor allem die Assad-Regierung für eine Einigung politisch bewegen müsse: »Das Regime hat seine Einstellung nicht geändert und denkt, es kann immer noch so herrschen wie vor 2011«, erklärte der Politiker. Eine Vereinbarung sei generell jedoch möglich, wenn Damaskus dem Umbau Syriens zu einem föderalen und demokratischen Staat zustimme. »Wir wollen nichts außerhalb des syrischen Staates gründen, wir nehmen die nationale Einheit Syriens sehr ernst.«

Zu möglichen Spezifika der Verhandlungen äußerte sich der Politiker zurückhaltend. »Wir wollen vor allem einen Schutz vor Luftangriffen, an den Grenzen könnten aber auch einige Regierungsposten stationiert werden.« Die von Russland vermittelten Verhandlungen seien möglich, aber schwierig. »Es fehlt an gegenseitigem Vertrauen.«

Muslim warf der Türkei zugleich den Einsatz von geächteten Kampfmitteln vor. »Es gibt Berichte, wonach die türkische Armee Napalm und Chlorgas eingesetzt hat«, sagte der Politiker. Einsehbare Unterlagen des Krankenhauses von Afrin könnten die Vorwürfe bestätigen. Nach Angaben von Muslim seien durch türkische Angriffe bisher über 200 Zivilisten getötet und 500 verletzt worden. »Auf dem Boden kommen sie kaum voran, aber sie setzen intensiv Luftschläge ein, auch gegen die Elektrizitäts- oder Wasserversorgung.«

Insgesamt befinden sich in Afrin laut dem nordsyrischen Politiker rund 800 000 hauptsächlich kurdischstämmige Bewohner und 400 000 syrische Inlandsflüchtlinge. Muslim befürchtet, dass es im Fall einer türkischen Besatzung zu großflächigen Vertreibungen kommen könnte. »Die Türkei plant einen Bevölkerungsaustausch in Afrin.« Die kurdischstämmigen Bewohner könnten so verjagt und dafür arabisch-sunnitische Syrer angesiedelt werden. »Erdogan kann mit den in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlingen Druck auf Europa aufbauen«, sagt Muslim. »Seine Drohung: Entweder wir schicken die Flüchtlinge zu euch, oder ihr helft uns, wenn wir sie in Afrin ansiedeln.«

Der nordsyrische Politiker beschwerte sich darüber, dass Ankara einer syrischen Friedenslösung im Wege stehen würde. »Die Türkei verhindert eine politische Lösung für Syrien, da sie eine Einbeziehung der Kurden in die Friedensgespräche ablehnt.« Selbst der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura könne sich nicht gegen die Türkei durchsetzen. »Wir brauchen Vermittlung.«

Muslim forderte die USA und die EU auf, Afrin zu unterstützen. Der Westen sei jedoch bisher weitgehend still geblieben, womöglich mit Rücksicht auf anstehende Rüstungsgeschäfte mit der Türkei. In Richtung Deutschland sagte er: »Wir sind keine Terroristen«. Flaggen der YPG oder Afrin-Versammlungen zu verbieten, sei ein »großer Fehler«.

Nach Meldungen über den Einsatz von Chlorgas durch die Türkei fordern derweil Menschenrechtsorganisationen eine unabhängige Überprüfung der Anschuldigungen. »Der Einsatz von toxischen Chemikalien als Waffe ist ein Kriegsverbrechen«, erklärte der Nothilfereferent von medico international, Bernd Eichner, am Montag in Frankfurt am Main.

Nach Angaben der Organisation hatten Ärzte in Afrin berichtet, dass sechs Patienten Mitte Februar mit Atemnot und Hautreizungen behandelt werden mussten. Die Verletzten sollen aus dem Dorf Erende stammen, das zuvor von der türkischen Armee angegriffen worden war. Der Gesundheitsrat von Afrin habe bei ihrer Behandlung Rückstände von Chlorgas festgestellt.

Die Ärzte rufen internationale Organisationen nun auf, die Proben zu untersuchen. Da die syrische Armee internationalen Helfern aktuell den Zugang nach Afrin verweigere, müsse sich das Auswärtige Amt für eine erste Untersuchung durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen einsetzen, forderte medico international. Wenn Chlorgas festgestellt werde, sollte ein UN-Team prüfen, von wem es eingesetzt wurde.

In Deutschland verlangte am Montag Grünen-Chefin Annalena Baerbock: »Der deutsche Außenminister muss sich für einen sofortigen Stopp des Agierens der Türkei im nordsyrischen Gebiet stark machen.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -