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Höhenfluch im Höllentief

Eugene O’Neills »Der haarige Affe« am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Regie: Frank Castorf

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Kapitalismus ist eine Herzensangelegenheit: Es ist, als säße das Leben am Tisch und fräße mit Appetit seine eigenen Herzstücke. Und nur ein gebrochenes Herz schlägt richtig - nämlich zurück. Einzig, was zurückschlägt, schlägt zu Buche. So tickt und tobt die derzeitige Welt; die Hochstimmung der Märkte ist scheinbar nicht mehr zu gipfeln.

Was aber ist mit dem politischen Kampf, von unten auf? Er mag noch so große Sozialhilfen befördern - am »großen Unvermochten« (Botho Strauß) kann er nichts ausrichten. Utopien? Ist das Billigste im Angebot - das Gute träumen kann jeder Idiot. Wer sich nicht selber mit Blindheit schlägt, sieht doch: Auch ein fernes Leuchten am Horizont steigt wahrscheinlich nur von Müllfeldern auf. Schwelbrand von Abfällen, die stammen von Gesellschaftsmodellen, die man in die Zukunft entsorgt. Immer noch in der Illusion, man arbeite an der besseren Welt.

Das ist der Stoff, der hier zur Rede steht. Sehr viel Rede. Auch Rederei. Vor allem Reederei. Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg inszenierte Frank Castorf »Der haarige Affe« von Eugene O’Neill. Es ist die Odyssee des Schiffsheizers Yank durch mehrere Stationen einer Hoffnung: nämlich in kapitalistischer Welt, wo auch immer, heimisch zu werden. Als Gestalter, Beherrscher. Sei es im Ich, sei es im Wir. Gekoppelt wird das mit Motiven aus zwei anderen Werken des US-Amerikaners: Da ist ein Ganove, der sich in einem fernen Dschungel zum Kaiser erhebt und im Angstwahn endet - Verfolgung durchs »eigene« Volk; und da ist ein Ausbeuter bösesten Ranges, er lügt sich per Maske - neidisch und plötzlich auf andere Art gierig - in die Rolle eines gestorbenen Künstlers. Geschichten von Sehnsüchten und deren Verelendung. Wir gehen als Krieger nach draußen, aber der Feind sitzt in uns selber.

Castorfs großes, rücksichtslos ungeputztes, frech uferloses Theater weint, brüllt, säuft, seufzt (in mehreren Sprachen), brüllt erneut, zeigt Amokläufer des Begehrens, abgekämpfte Selbstausgräber, die das Grauen in sich entdecken: Ein Jeder auf Erden ist für alle schuldig. Man treibt einander unzählige Philosophie-Nadeln ins Fleisch, bis das Fleisch aufhört, sich gegen die Wunden zu wehren.

Aleksandar Denić erbaute eine blinkende, nebelnde Plunderbühne mit Camel-Werbung und Zeitungskiosk. Zwanziger Jahre. Ein langer Gang nach hinten und steile Treppe nach unten zur Subway. Aller Hintergrund ist Untergrund, und hier gelingen Castorf und seinem Videoteam erdrückend faszinierende Filmszenen aus einem Totenschiff. Zwischen die Live-Aufnahmen geschnitten: Szenen aus einer uralten US-Verfilmung des »Haarigen Affen«.

Yank und seine Männer vorm Feuerofen. Der Dreck der Kohle und der Schweiß. Umgeben von Glut - ein Sterbensleben wie in einem Straflager. Hier explodiert Charly Hübners Yank, in tönender Hymne, zum Ausbund proletarischer Strahl- und Stahlkraft. Hübners Tapsigkeit ist wie jener seidene Faden, daran ein Leben hängt, und der so gern der Anfang einer Zündschnur wäre. Hier, unentrinnbar im Schmutz, singt sich Josef Ostendorfs massiger, todgeweihter Heizer Paddy seufzend und zart in romantischste Elegien von blauer See und schönstfernem Gestade. Höhenfluch im Höllentief.

Hierher schleicht sich Lilith Stangenberg als Kapitalistentochter vom Luxusdeck - um das Leben der Arbeitssklaven zu studieren. Und dann sehen wir die Nackte, wie sie selber Kohle schaufelt, eine taumelnde Kreatur, ein Häuflein Dreck, bald zugeschüttet von denen, die sie eben noch anhimmelte. Castorf lässt immer wieder Rimbauds »Trunkenes Schiff« zitieren; in den Szenen lebt, was Volker Braun über den Franzosen schrieb: »Es genügt nicht, dass beim Dichter, wie gewöhnlich, einige Sperren locker sind und er auf die Freitreppen pisst. Er muss sich wirklich verwandeln, indem er ins Dunkle des Kampfes geht, in den Dreck der Ungleichheit.«

Wir wissen’s doch von den Theoretikern: Kunst entsteht, wenn eine Aufführung an ihren gefährdeten Stellen Glück hat. Castorf hortet solche Stellen geradezu, auch in diesen fünfeinviertel Stunden, und Kunst und Glück scheinen ihm egal zu sein. Er zieht durch, was allem den Boden der Ordnung wegzieht. An der Übersicht ist das Beste: sie zu verlieren. Frag nicht nach Handlung. Halt nicht dagegen, wenn’s nervt und dich früh ermüdet. Halt einfach aus. Die Monologe ziehen lange Bahnen durch den Dämmer. Noch eine Schleife Verlorenheit, noch eine Schrei-Folge Verzweiflung, noch eine Zeter-Zeremonie Tod. Gib nicht auf. Gib dich hin. Die Wucht - sie kommt und weckt. Und sie ist in Abständen sogkräftig groß, auf eine radikale Weise menschenliebend. Als tanzten Sonnenstäubchen überm Kohlenschwarz.

Die Inszenierung klebt sich Affenbehaarung auf Männerleiber, sie ka-lauert jeder Lustigkeit auf (so denkt sie »Maschine« und sagt »Dieter Birr«); sie ruft schwyzerdeutsch ins Publikum und erhält in gleicher Sprache Antwort aus dem zweiten Rang. Mit Max Stirner zürnt sie gegen die Absolutsetzung von Ideen, referiert den totalen Egoismus, zugleich zitiert sie Marx: Stirner sei »die hohlste Nuss unterm Philosophenhimmel«. Wenn der Schwarze Abdoul Kader Traoré - gespannt elegisch, drohend sprungbereit - den Kolonialismus verinnerlicht, setzt er eine weiße Maske auf: einen Totenkopf. Das Wesen des Westens ist Verwesung - wer in den Verwertungsring steigt, ist der noch Mensch oder schon Leiche?

Nur in der Vernichtung des Schönen entdecken wir, dass ihr Maß in uns noch lebendig ist? Immer erfahren wir erst durch Entzug, was fehlt. Das meint versunkene Welten, versoffenes Geld. Vertane Liebe sowieso. Castorfs Truppen-Tollheit: sich mit Stolz niedrig spielen, sich schwitzend billig präsentieren, die Verachtung über das eigene Unglück austoben - das ist die wüste chaotische Ehrlichkeit, die der gängigen Hochwertökonomie (auch dem Kunstgeschäft der Schön- und Seelenspieler) Widerstand leistet. Marc Hosemann: ein ständiges räudiges Fiebern, um sich in eine Sprungfeder zu verwandeln. Daniel Zillmann ist das tänzelnd schwere Kind, und Kathrin Angerer, die für eine erkrankte Kollegin einsprang, agiert mit gewohnt geschmeidiger Schmoll-Raffinesse.

Jetzt wirft die Inszenierung scheppernd mit Ölfässern, stößt im Dschungel der Denić-Gestänge jubelnd auf eine Hanfplantage, lässt Bier aus einem Zapfhahn durch die Etagen tropfen, springt auch mal von der Bühne und lästert zwischen den Stuhlreihen des Saales über die glitzernden »Klunker« der Frauen. Natürlich tragen die Castorf-Weiber auf der Bühne wieder viel Haut und wenig Stoff, und natürlich fällt irgendwann ein Heiner-Müller-Satz, und natürlich wird aktuell gewitzelt. Sexuelle Belästigung? Lilith Stangenberg winkt ab: »Runterschlucken - abduschen!« Ein »Buh!« von ganz weit hinten. Das wirkt so ätzend humorfrei, so unangebracht beflissen - es wirkt in diesem Moment so ähnlich, wie Fotos von Protestdemonstrationen leider nur immer zeigen, was der Zorn mit schreienden Gesichtern macht: Er entstellt sie.

Die Kunst hat Namen für das, was wirklich Freiheit wäre, gefährlichste Freiheit: Baudelaires böse Blumen, Batailles Ekel, Artauds Grausamkeit. Auch Rodins Höllenstürzler sind uns hier nahe, just da, wo wir uns dagegen wehren. Castorf hämmert mit rohen, rünstigen, ruchlosen Bildern; wir treten ein in jenes Höhlensystem der Räusche, wo ein neuer Schwerpunkt gültig wird. Jenseits der flinken Reflexe, uns per politischem Bewusstsein immer wieder eine klar bewertbare Welt einzureden. Das Teuflische im Menschen ist für Castorf keine Letztbegründung, sondern eine Vermittlungsinstanz - sein Theater sucht auf eine Weise, die so nirgend anders erlebbar ist auf deutschen Bühnen, eine Beschreibungsperspektive jenseits allen eilfertigen Verstehens, jenseits aller Kultur, mit der wir einander abdämpfen, abgleichen, abstellen, abrichten.

Jetzt noch »La Paloma«. Und Brechts »Alabama-Song«. Und dazu die rote Parole: »... stehen alle Räder still«. Das passt alles zusammen, weil es überhaupt nicht zusammenpasst. Castorf verhält sich unverklemmt zum Wesen von Assoziationen: Sie sind gesinnungslos. Er wirft gern alles in eins, bis alles derart falsch scheint, dass Wahrheit nicht mehr zu vertuschen ist. Befreiung ist immer auch Beginn neuer Unterdrückung - das setzte die proletarische Bewegung der Welt auf den Lernplan. Die Welt dreht sich weiter. Die Sozialismus-Idee auch - um sich selbst; den meisten ist noch immer schwindlig. Yank will Zugehöriger sein - erst zur Kraft des Motorenzeitalters, dann zur Motorik des Bürgerlichen. Er scheitert. Der Rückzug ins Natürliche, die versuchte Partnerschaft mit einem Gorilla im Zoo, endet logisch: Der Affe zerquetscht den Menschen. Willkommen in der Evolution. In Ewigkeit?

Nächste Vorstellungen: 21. Februar; 4., 26., 30. März

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