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Der aufgenötigte Verrat
»Das schweigende Klassenzimmer« in der Sektion Berlinale Special
Ungarn am 23. Oktober 1956: Bei Protesten gegen die kommunistische Regierung schießen Regierungskräfte auf Demonstranten. Die gewalttätige Reaktion des ungarischen Staates markiert den Beginn des sogenannten ungarischen Volksaufstandes. Die Proteste greifen auf das ganze Land über; im November verkündet die neue reformkommunistische Regierung unter Ministerpräsident Imre Nagy die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt, dem von der Sowjetunion geführten Militärbündnis. Dessen Antwort fällt entsprechend aus: Die reformkommunistische Phase wird durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen beendet, Tausende Ungarn sterben, Hunderttausende gehen ins Exil.
Knapp 600 Kilometer nordwestlich erfahren die beiden Abiturienten Theo Lemke (Leonard Scheicher) und Kurt Wächter (Tom Gramenz) aus dem brandenburgischen Stalinstadt bei einem Besuch in Westberlin in der Wochenschau vom Aufstand der Ungarn in Budapest. Zurück in Stalinstadt berichten sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern von den Ereignissen. Für Empörung sorgt vor allem die Nachricht, dass der Fußballspieler Ferenc Puskás (1927 - 2006), Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1954, bei den Unruhen ums Leben gekommen sein soll. Spontan entscheidet sich die Klasse zu einer Schweigeminute für die Opfer des Aufstands. Später stellt sich die Meldung vom Tod Puskás’ als falsch heraus.
Was heute eine Petitesse wäre, die schulintern geklärt würde, zieht vor mehr als 60 Jahren in der noch jungen DDR politische Kreise. Rektor Schwarz (Florian Lukas) will den Vorfall herunterspielen, doch die SED-Bezirksleitung erfährt von den Vorgängen an der Oberschule. Schulleiter, Lehrer und Schüler werden befragt, unter Druck gesetzt, man will den »Rädelsführer« der Aktion identifizieren und zur Verantwortung ziehen, doch die Klasse hält dicht, hält zusammen. Am Ende wird die gesamte Klasse von der Schule verwiesen; sie dürfen, das gibt man ihnen noch mit auf den Weg, an keiner Schule der DDR das Abitur ablegen. Die Mehrheit flieht wenige Wochen später in den Westen. Die Ironie an der Geschichte: Ausgerechnet ein Staat, der den Kollektivgeist seiner Bürger beschwört, scheitert an der Verweigerung eines Kollektivs.
Regisseur Lars Kraume hat diese wahre Geschichte filmisch umgesetzt und sich dabei an dem gleichnamigen Buch von Dietrich Garstka orientiert. Garstka war einer der Schüler, die im Oktober 1956 in Konflikt mit der Staatsmacht geriet. Sein Abitur legte er im Westen ab, studierte, wurde Gymnasiallehrer; sein Buch »Das schweigende Klassenzimmer« erschien 2007.
Ein autoritärer Staat will Stärke zeigen - und zeigt doch nur, wie schwach er eigentlich ist. Denn im tiefsten Innern, das will dieser Film sagen, gibt es etwas Unangreifbares und Unverletzbares, den Willen des Individuums, der Forderung nach Unterordnung zu widerstehen. Dieses Widerstehen ist von den Verhältnissen beeinflusst, aus denen man stammt, in die man sich schickt oder schicken muss. Für den Lehrersohn Dietrich Garstka mag die Entscheidung für das Widerstehen leichter gewesen sein als für den Stahlarbeitersohn Theo Lemke oder den SED-Funktionärssohn Kurt Wächter im Film. In einer ähnlichen Situation befindet sich Rektor Schwarz, gespielt von Florian Lukas. Dieser Schulleiter ist ein innerlich Zerrissener, er pendelt zwischen der Loyalität zu einem Staat, dem er alles verdankt, und seinem pädagogischen Gewissen.
Im wahren Leben hieß dieser Schulleiter Georg Schwerz (1925 - 2017). Nach der Flucht seiner Schüler in den Westen verliert er seinen Posten als Rektor. Im Buch von Dietrich Garstka begründet er seine Entscheidung, trotz Degradierung in der DDR zu bleiben und weiter als Grundschullehrer zu arbeiten, mit seiner Herkunft. Als Kind von Gutsarbeitern wäre er ohne die DDR »nie über die Volksschule hinausgekommen«. Der Staat habe seine Ausbildung finanziert, ihm ein Studium ermöglicht. »Und das hat trotz aller Ärgernisse, die ich hatte, dazu geführt, dass ich gesagt habe, das ist vielleicht eine Entgleisung, aber der Staat ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn er jungen befähigten Leuten die Möglichkeiten gibt, sich den höchsten Bildungsgrad anzueignen.« Dass jemand wie Schwerz zu dieser Zuversicht genötigt wurde, ist vielleicht die größte Schuld des untergegangenen Sozialismus’ Marke DDR.
Kraume hat die Geschichte der relegierten Abiturklasse von Storkow nach Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt) verlegt, und bis auf eine Person tragen alle Beteiligten andere Namen, haben eine andere Vorgeschichte. Aber das sind nicht die einzigen Änderungen. Kraume, der auch das Drehbuch verfasste, führte neue Figuren ein. Etwa den Schüler Erik Babinski, Sohn eines kommunistischen Widerstandskämpfers, der seinen verstorbenen Vater wie einen Heiligen verehrt, oder den als Einsiedler in einer alten Hütte am See lebenden Edgar (Michael Gwisdek), der ein anarchistischer Bohemien ist, bei dem die Schüler verbotenerweise den Westberliner Radiosender RIAS hören und sich über die Ereignisse in Ungarn informieren.
Erik Babinski wird von Jonas Dassler gespielt. Es ist eine Nebenrolle, die aber das Hauptsächliche des Films erzählt und damit über diesen hinausweist: Wie soll sich der Einzelne gegenüber der Mehrheit verhalten, wie ihrer Macht widerstehen, wenn er Unrecht vermutet? Der Konflikt, der sich im Großen zwischen der Staatsmacht und der Schulklasse abspielt, spiegelt sich im Kleinen zwischen Erik und den Wortführern der Klasse wider. Erik ist der einzige Schüler, der gegen die Schweigeminute für die Ungarn zur Gegenrede ansetzt, der doch mitmacht, später aber sein Schweigen bricht und andere denunziert - und dies nicht aus Opportunismus, sondern aus aufgenötigtem Verrat, um einen Mitschüler zu schützen.
Erik ist aber auch das Opfer eines Staates, zu dem er aus Loyalität gegenüber seinem verstorbenen Vater hält. Diesen Vater haben - wie Erik erst beim Verhör durch die SED-Schulrätin erfährt - die eigenen Genossen liquidiert, weil er im KZ schwach und zum Nazi-Kollaborateur wurde. Erik Babinski zerbricht an dieser Wahrheit, weil der Staat dieses Unangreifbare in ihm - den Glauben an den Sozialismus - verletzt hat, und wie der 21-jährige Jonas Dassler das spielt, zählt zu den stärksten Szenen dieses Films.
Die anderen sind die Auftritte von Burkhart Klaußner als Volksbildungsminister Fritz Lange (1898 - 1981). Dieser Kommunist geht mit aller Härte gegen die renitente Klasse vor, demütigt und beleidigt, erniedrigt, brüllt und wütet. Es gibt aber einen Moment in dem Film, der zwar nichts rechtfertigt, aber alles erklärt. Als der Vater von Theo, der Stahlarbeiter Hermann Lemke (Ronald Zehrfeld), beim Minister um Gnade für seinen Sohn bittet, zeigt dieser auf die Narbe am Hals, die ihm SA-Leute zugefügt haben. Nie wieder, so sagt Lange, der auch im Film so heißt, sollen jene an die Macht kommen, die ihm das zugefügt hätten. Dass dieses Motiv nicht unbegründet war, darauf verweisen Georg Schwerzs Schilderungen im Buch von Dietrich Garstka. Er wäre möglicherweise auch in den Westen abgehauen, sagt er, »aber ich kriegte aus den Altbundesländern, besonders aus Bayern, ständig Drohbriefe: Ihr Kommunistenschweine, ihr habt eine Klasse davongejagt. Wartet mal, es kommt anders, und sucht euch schon mal den Baum aus.«
Der Film spart aus, was Garstkas Buch interessant macht: die Begegnung der ehemaligen Schüler mit ihren Lehrern 40 Jahre nach den Ereignissen, die Gespräche, die Versuche von Rechtfertigungen, aber auch von spätem Verständnis füreinander.
Wie viel Fiktion verträgt ein Spielfilm, der historische Begebenheiten als Grundlage hat? Regisseur Lars Kraume, der bereits mit seinem Film »Der Staat gegen Fritz Bauer« einen historischen Stoff zum weiten Feld der Vergangenheitsbewältigung drehte, hat darauf eine verblüffend einfache Antwort: »Man muss die Ereignisse dramatisieren dürfen, sonst bekommt man keinen spannenden Film. Niemand kommt gerne aus dem Kino und sagt: war alles wahr, aber ein bisschen langweilig.«
Dietrich Garstka: Das schweigende Klassenzimmer. List-Verlag, 255 S., br., 9,99 €.
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