Globale Ungerechtigkeit lässt sich nicht mehr outsourcen

Grenzübergreifende Migration braucht ein anderes Politikverständnis als es die aktuelle Debatte über Flucht und Integration – auch in der Linkspartei – zeigt

  • Anne Steckner und Jan Schlemermeyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Sahra Wagenknecht hält die Forderung nach offenen Grenzen für weltfremd und nicht links. Oskar Lafontaine warnt seine Partei in der Sächsischen Zeitung davor, dass die »Philosophie der multinationalen Konzerne, des No-border-no-nation-Neoliberalismus, sich durchsetzt.« Beide blenden aus, dass globale Migration sich nicht in geordnete Bahnen lenken lässt. Eine linke Antwort auf die damit verbundenen Herausforderungen muss Politik anders denken.

Ein Blick in den Maschinenraum der deutschen Integrations- und Einwanderungspolitik, zum Beispiel beim 3. Integrationsgipfel im September in Berlin, macht deutlich: Die wesentlichen Akteure aus Unternehmen, Politik und Verwaltung verstehen Deutschland inzwischen mehrheitlich als Einwanderungsland. Es gibt zwar noch »Anpassungsprobleme« und »Vollzugsdefizite«, doch die allgemeine Aufregung über die »Flüchtlingsströme« hat sich gelegt. Das Thema Integration wird längst (wieder) im Modus der Verwaltung angegangen. Doch statt Integration als wechselseitigen Prozess auf der Grundlage gleicher Rechte für alle zu begreifen, bleibt die Vorstellung eines etablierten »Wir« (gegenüber »denen«) unerschüttert.

Integration heißt demnach vor allem Anpassung an die bestehenden Strukturen des Arbeitsmarktes, samt seiner Ausschlüsse und Disziplinierungen. Und im Rahmen eines Ausländer- und Asylrechtes, das soziale wie politische Rechte ganz selbstverständlich ungleich vergibt. Dieser modus operandi beruht auf der stillschweigenden Annahme, dass die Zahlen von Asylsuchenden, Migrant*innen und Kriegsflüchtlingen sinken bzw. niedrig bleiben. Dabei zeigen Studien, wie die des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung – schon 2016 –, dass aufgrund der sozialen Situation im Umfeld Europas in Zukunft noch viele Menschen kommen werden. Es wäre also ehrlicher, das zu sagen – und dann entsprechende politische Formen dafür zu finden.

Integration durch Abschottung?

Doch öffentlich ernten die Forderungen von AfD, Union und FDP momentan wenig Widerspruch. Es brauche »heimatnahe Lösungen«, sprich Asylzentren entlang der nordafrikanischen Küste und einen effektiveren »Schutz« der europäischen Außengrenzen. Kriminelle Ausländer seien abzuschieben. Mit anderen Worten: Nur wenn die Grenzen de facto dicht sind, können »diejenigen mit Bleibeperspektive« im inneren Europas ungestört integriert werden. Auf die Konsequenzen dieses Ansatzes weist die Migrationsforschung schon länger hin: Das globale Modell eines Gated Capitalism, in dem schrumpfende Wohlstandszonen sich vom zerfallenden Rest der Weltwirtschaft abschotten, kann nur »dann stabil sein, wenn das Gewaltniveau ein neues Niveau erreicht. Die AfD-Forderungen nach einem Schießbefehl für die europäische Grenzpolizei lassen dies ahnen«, so Fabian Georgi vom Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

Auch die linke Debatte um Einwanderung kann sich dieser ordnungspolitischen Logik allzu oft nicht entziehen. Kein Wunder. Denn globale Migration – sei sie aus Not oder Neugier – rüttelt an den Grundpfeilern einer Politik, die »realitätstaugliche Konzepte« und »realistische Lösungen« präsentieren soll und immer wieder gefragt wird »Wie soll das zu schaffen sein?« Und tatsächlich: Für Bürgermeister, Verwaltungsangestellte und Landräte, aber auch Flüchtlingsräte und Aktivisten war der Summer of Migration zunächst eine Unterbrechung der eingespielten Routinen – und mancherorts (keineswegs überall) ein logistisches Problem. Dass Neuankommende natürlich auch Wohnungen, Arbeit und Kitaplätze brauchen, offenbart ein Dilemma linker Politik heute: einerseits zu wissen, dass diese Frage im alten Modell des fordistischen Nationalstaates nicht zu lösen ist, es sei denn, man nimmt Obergrenzen und die damit einhergehende Eskalation der Gewalt an den Rändern der Festung Europas in Kauf. Andererseits nicht mächtig genug zu sein, um einer Verschärfung der Konkurrenz unter den Lohnabhängigen kurzfristig etwas Absicherndes entgegensetzen zu können.

Doch die vermeintliche Sicherheit des Alten gibt es nicht. Spürbare Veränderungen werden ohnehin stattfinden – die Frage ist, in welche Richtung. Angesichts der bereits heute absehbaren Migrationsbewegungen gilt es daher, für diesen Prozess einen angemessenen politischen Modus zu finden – und das kann für eine linke Partei nur einer sein, der nicht mehr Zäune, mehr Mauern und mehr Gefängnisse bedeutet. Das ist mehr als eine humanitäre Frage. Denn die Spaltung in »privilegierte« Inländer und schutzlose Illegalisierte schwächt insgesamt die Verhandlungsposition der Arbeit gegenüber dem Kapital: Es gibt dann immer jemanden, der es für weniger macht, weil er oder sie es schlichtweg machen muss. »Globale Bewegungsfreiheit ist deshalb nicht nur ethisch geboten«, betont Georgi, »sondern strategisch notwendig, um globale Kräfteverhältnisse im emanzipatorischen Sinne zu verschieben.« Übrigens ein Anliegen, das seit langem integraler Bestandteil des linken Internationalismus ist.

Veränderung statt Verwaltung

Er setzt heute voraus, Politik grundsätzlich anders zu denken. Das hieße, die Annahmen über »Aufnahmebereitschaft«, über vermeintlich objektive Grenzen der Kapazität, ja das Denken in nationalen Räumen in Frage zu stellen. Es hieße, den kategorischen Imperativ der Ordnungspolitik – »Fordere nur, was auch bewältigbar, verkraftbar, vermittelbar ist« – zu überwinden. Mit anderen Worten: Es hieße, die gegenwärtigen Grenzen als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte- und Vermögensverhältnisse ernst zu nehmen – Verhältnisse also, die veränderbar sind.

An die Stelle eines paternalistischen Politikstils, der versucht, bestimmten Zielgruppen auf Basis demoskopischer Erkenntnisse im Tausch für Stimmen Politik- und Deutungsangebote zu unterbreiten, müsste ein transformatives Verständnis von Politik treten. Gerade linke Migrationspolitik wäre eine Politik der Veränderung von unten, die Widersprüche offen benennt und deren Programmatik nicht fertig sein kann, sondern sich im Prozess (weiter)bilden muss. Sie braucht »den Mut zum Unvollendeten« (Willy Brandt). Innerhalb der bestehenden Ordnung eine Richtung, aber keine vollendeten Lösungen anbieten zu können, mag zunächst der allgemeinen Erwartung und dem Anspruch, »seriöse Politikangebote« zu formulieren, widersprechen. Doch in Wirklichkeit wird sie dem enormen historischen Umbruch gerecht, den wir erleben. Denn »Sicherheit ist heute nicht gegen, sondern nur noch durch Veränderung erreichbar« (LINKE, Magdeburger Parteitag 2016).

Herausforderungen benennen

Hinzu kommt: Die Auswirkungen globaler Ungerechtigkeit lassen sich nicht mehr outsourcen, der soziale (Migrations-)Druck ist in Gestalt der Flüchtlinge nun auch vor unseren Türen angekommen. Will die LINKE ihre Programmatik nicht sukzessive nach rechts anpassen, muss sie »die scheinbare Selbstverständlichkeit von Migrationskontrollen als eine weitere, willkürliche und nicht zu rechtfertigende Hierarchisierung von Menschen begreifen. (…) Dann zielte eine ›linke Migrationspolitik‹, konsequent zu Ende gedacht, aber nicht auf ›humane‹ und ›faire‹ Kontrollen, sondern auf deren Abschaffung.«

Solch ein Politikverständnis spricht nicht dagegen, zugleich die Ursachen von Flucht und Vertreibung anzugehen. Man kann Migrant*innen aber schlecht sagen, sie sollen doch bitte warten, bis wir hierzulande die Produktion von Fluchtursachen abgestellt haben. Zumal von den Fluchtursachen kaum jemand gesprochen hat, bevor es eine nennenswerte Zahl von Geflüchteten hierher geschafft hat. Als Linke können wir Solidarität nicht allein gegenüber Menschen üben, die möglichst weit weg sind. Das beliebte Argument des Brain-Drain, dass offene Migration zum Verlust an gutausgebildeten Fachkräften in ärmeren Ländern führe, ist zudem selbst heikel. Es übersieht die Wechselwirkung zwischen Aus- und Einwanderungsländern: Wissenstransfers, saisonale Rückkehr bei offenen Grenzen sowie die Überweisungen von Migrant*innen in ihre Herkunftsländer (laut Weltbank 2016 mehr als 575 Milliarden Euro rund um den Globus). Und es geht über eine ernste Frage hinweg: Dürfen volkswirtschaftliche Erwägungen individuelle Grundrechte aussetzen, den Eigensinn der Lebensgestaltung missachten und Menschen zum Objekt administrativer Planung machen? Wenn das Versprechen der Linken mehr als Verwaltung sein soll, müssen wir sagen: nein. Diese Haltung spricht nicht gegen ein Konzept – wie es die Projektgruppe für ein linkes Einwanderungsgesetz vorgelegt hat – das die Forderung nach offenen Grenzen in ein konkretes Verfahren übersetzt. Aber sie hilft gegen die Einwände derjenigen, denen auf die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit immer nur die Frage einfällt, was das wieder kostet und wer das bezahlen soll.

Progressive Migrationspolitik muss dagegen zwei Perspektiven als zusammenhängend thematisieren: die Überwindung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse und das Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Sie muss die Rechte aller Glücksuchenden verteidigen – egal ob aus Eschweiler, Erfurt oder Eritrea. Sie muss die humanitären wie die strategischen Gründe für offene Grenzen benennen, ohne die damit verbundenen Schwierigkeiten zu verschweigen. Dieser Prozess ist kein leichter, dafür umso dringender. Wenn wir mit dieser Herausforderung offen umgehen, haben wir schon den ersten Schritt getan.

Anne Steckner und Jan Schlemermeyer arbeiten beide im Bereich Strategie und Grundsatzfragen der LINKEN.

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