Deckname Menschensohn

20 Jahre Gefängnistheater »aufBruch« - Wagners »Parsifal« in der JVA Tegel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Richard Wagner nicht in Bayreuth, sondern in der Justizvollzugsanstalt Tegel? Versenkungstiefen Gemütern muss das Herz stocken. Der heilige Gral in rohen Händen? »Parsifal«, gepresst in raue Ausdrucksformen? Ja, unbedingt. Das nämlich macht die Kraft des Berliner Gefängnistheaters »aufBruch« aus: dieses klug robuste, freudig erregte Wildern in bildungsbürgerlichen Schonungen. Just die Gezeichneten erzählen uns hier das Gleichnis vom »reinen Toren« Parsifal. Die sich schuldig machten in ihrem Leben, sie erzählen uns, was der wahrhaft große Mensch sei: »... durch Mitleid wissend«. Manchmal muss man - um sich zu spüren - alle Hoheitszeichen der Nuance ablegen, muss am Ende jener langen Empfindungsdynastie, die sich Hochkultur nennt, wieder jene Seele sein, die sich an einem Stoff freudig überdehnt. Diese Spieler da holen sich keinen Wagner her, sie entdecken sich selber. Unversichert, wahrlich: unter Lasten - unbelastet.

Peter Atanassow (Bühne: Holger Syrbe, Produktionsleitung: Sibylle Arndt) inszenierte diese Wagner-Adaption, in Kooperation mit dem Education-Programm der Berliner Philharmoniker und der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«. Eine Aufführung anlässlich des 20-jährigen »aufBruch«-Jubiläums. Was damals mit Roland Brus, dem Leiter des Obdachlosentheaters »Ratten«, ungewiss und skeptisch beäugt begonnen hatte, ist heute in allen Strafanstalten Berlins originäres, beeindruckend intensives Theater, für das Regisseur Atanassow eine einprägsame Ästhetik etablierte. Ein Programm, umrahmt von Filmen, Workshops, Aufführungen an anderen Orten Berlins.

Über sechzig Produktionen bisher. Und immer Zugriff auf jenes Schwere, das an die Existenz geht. Odysseus, Philoktet: Wer Helden will, erzeugt Verbrecher. Spartacus: Die Utopien der einen Epoche begründen die Gemetzel der nächsten. Simplicissimus, Kaspar Hauser: Wo alle etwas sein wollen, ist es mutig, nichts zu sein. Schillers »Räuber«: Eine Gesellschaft ist der Rettung nah, wenn ihre Retter verzweifeln. Don Quichote, Schwejk: Dieser Welt entkommen wir nicht durch Türen, sondern durch Narretei. Kohlhaas: Tugend ist immer auch Terror. Franz Biberkopf: Den Einsamsten frag, was Liebe sei. Wallenstein: Militär bleibt Verkommenheit. Toller, Koltés, Brecht, Brasch, Müller, die Griechen, die Absurden. Heiner Müllers Satz »Biografie füllt Text«, zum Motto von »aufBruch« erhoben, bindet Stoffe und Spieler.

Dies ist der exklusive Prunk der jeweiligen Ensembles: eine Souveränität des Ungelenken, eine Eleganz des Groben, ein schöner Stolz der Scheu. Die Gesichter, von Inszenierung zu Inszenierung, sind eine Galerie: Lust und Laster, Lohen und Leiden, Lauern und Leder, List und Lädiertheit. Du schaust diese Gesichter und denkst: Etwas gegen die eigene Bedeutungslosigkeit zu tun, kann erschütternde Taten hervorbringen - oder kriminelle Akte. Kein Mensch sollte sich zu sicher fühlen in seinen Urteilen über Irrende. Warnt jede Kunst. So einer wie Dostojewski, um ganz in die Tiefe zu gehen - er ist Olymp, aber er sitzt auch ein.

Auf der kleinen Feier, die der Jubiläums-Premiere vorausging, wurde an die Anfänge erinnert, an jenes Unverständnis höheren Ortes, warum im Strafvollzug eine Ziege herumlaufen solle und wozu in einem Gefängnis Sand aufzuschütten sei. Bis heute ist Theater im Knast ein konfliktbegleiteter Versuch von Öffentlichkeit - in einer geschlossenen Welt, darin für Betroffene das Gesetz der Einschränkung gilt. Und welche neue Spannung entsteht, wenn Insassen - oftmals getrennt durch Sprache, aber vereint durch Schicksal - plötzlich spielend zusammenrücken? Gemeinsamer Text macht voneinander abhängig - wie verträgt sich das mit dem gewohnten Ringen um hierarchische Positionen? Beim Theaterspiel, so sagte der Tegeler Anstaltsleiter Riemer sehr schön, erhalten die Spieler, was eher selten ist in ihrem Leben: »Applaus für etwas, das nicht verboten ist«.

»Parsifal«. Da ist ein angeblich von Gott eingesetztes Männer-Bündnis, das auf Menschheitshilfe verpflichtet ist und durch eine Führungskrise gelähmt wird. Zentrum der zergerbten Bündelei ist das Ritual um einen Kelch, den Gral, der den Mitgliedern die nötige Kraft fürs Gutsein verleiht. Chef Amfortas aber verweigert die Enthüllung des Grals, das würde nur sein Leiden verlängern - an jener Wunde, die ihn gleichzeitig am Sterben hindert, geschlagen vom heiligen Speer, den er sich entreißen ließ. Chaos, Verhärtung, Hoffen auf einen Retter.

Der Hohlhaufen dieser Ritter bezeugt eine vertrackte Beziehung zwischen Freiheit und Gehorsam. Freiheit ist ein ebenso hoher Wert wie Gehorsam, also Bindung. Freiheit bedroht den Wert des Gehorsams - umgekehrt jedoch schützt der Wert der Bindung (des Gehorsams, der Tradition) den der Freiheit: Denn er gibt ihr ein Maß, eine Begrenzung, schafft Gemeinden mit Sinn für Verbindlichkeit. Bindung aber ist den Rittern verlorengegangen, geblieben ist die Zwangskohorte, wie sie im Lager lungert, in Umzäunungen fristet, in Überwinterungshöhlen hockt, in Isolationen aller Art lebt.

Thomas Schusters einleuchtende Kostüme kommen in diesem Sinne aus dem Regime der Wattejacke, der gesteppten Hose - als hätten sich Kriegsheimkehrer über die Rückstände einer geflohenen Macht gestürzt; das koppelt sich mit hellen Kitteln des Klinischen, und unter allem lugt dezent eine von Mann zu Mann variierte privatime Alltagskultur hervor. So zeigt sich Fremdheit, und ebenso zeigt sich: Wir spielen, und am wenigsten spielen wir Oper und Weihe. Und das unheimliche Weib Kundry grinst und zwinkert aus einem beleibten Mannspaket, in Wolle und Tuch gewickelt, als vereinige sich eine Schamanin mit einer Matka.

Der Tor, der Naive, der unwissende Parsifal steht mit der skeptischen Wucht eines Hools im Raum. Strahl einer stieren Naivität, die alle Intelligenz des Weltbegreifens überwunden hat, und die ein gutes Boxtraining gewiss für den wahren Weg in die Erlösung hielte. Er hat die Faust dafür, den Nacken, die Stirn. Das schwere tapsige Kind aus dem Märchen. In der Ruhe wartet ein Rumor. Hat er später den Speer und das Herrschermandat, steht er im abgetragenen Wintermantel - aber wohl das Beste, das man in Nachkriegszeiten ergattern kann.

An die Wand projiziert werden Massenszenen aus Filmen von Tarkowski und Welles - Festungsbrände und Reiterstürme, sie holen historische Assoziationen herein, es fliegen Schwäne, Blüten platzen auf. Die Ritter stehen hinter Gittern, über den Gang vor ihnen zieht mit Holzkreuz der »König der Juden«, die Meute johlt, und einer schickt klagend ein türkisches Lied hinterher: Egal, welche Religion zu welchem Land gehören soll - unter der Gottheit Folter eint alle Gläubigen der gleiche Schrei.

Das Publikum zieht bald tiefer in den ausgedienten schmalen Trakt, die steile Stahltreppe ist golden und rot drapiert. Klingsors Zauberschloss offenbart auf der oberen Etage von Zelle zu Zelle die Kabinette der Rauschversorgung: Fitness, Onanie und Glücksspiel. Hier füllt Streicherton einen Raum, der solcherart Wohllaut nicht kennt. Hier trifft Parsifal auf Kundry - jetzt ist das die Mezzosopranistin Judith Kamphues, sie besingt die Sehnsucht nach dem Mann, der sie aus ewigem Leben erlöst, »nun such ich ihn von Welt zu Welt«.

Weiterwandern im irdischen Jammer- und Zurichtungstal - Schmerz bewegt mehr als Heilsversprechen. Wir ziehen in den Duschraum des Trakts. Den Gebeugten, den wir zu Beginn als Gekreuzigten sahen, er ist jetzt in einer der Badewannen einer Tauchpein ausgesetzt, zu der ein sächselnder Kommentator den Kern von Orwells »1984« zitiert: Gib dich auf, und du wirst leben! Am Schluss drängen die Ritter wieder gegen die Gitter. Atanassows Chorgewalt. »Jesus! Deckname Menschensohn«. Kein Heiliger, sondern ein Heißsporn des Zorns. Seine Jünger, das ist die gutböse Einheitsfront von »Revolutionären und Kriminellen« - wahre Erlösung besteht in der wachen, weisen Furcht vor ihr.

Nächste Aufführungen: 7. bis 9., 14. bis 16., 21. bis 23. März, JVA Tegel (nur mit persönlicher Anmeldung mindestens fünf Tage vor der Vorstellung).

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