- Politik
- Nach Kritik am Vorgehen der Tafel in Essen
Berliner Tafel-Vorsitzende: Werde beschimpft ohne Ende
Sabine Werth: Aufnahmestopp für Nichtdeutsche »richtet unglaublich viel Schaden an« / Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt fordert Bundesregierung auf, für mehr soziale Sicherheit zu sorgen
Berlin. Weil die Berliner Tafel die umstrittene Entscheidung in Essen, erstmal keine Menschen ohne deutschen Pass mehr aufzunehmen, kritisiert hat, wird sie nun selbst angeprangert. »Seitdem bekomme ich E-Mails und Anrufe, in denen ich und meine ganze Familie verdammt werden. Ich werde beschimpft ohne Ende«, sagte die Vorsitzende der Hauptstadt-Tafel, Sabine Werth, am Samstag der »Süddeutschen Zeitung«. Werth bekräftigte dennoch ihre Haltung: »Ich finde die Reaktion des Vorsitzenden in Essen unterirdisch. Die dortige Tafel ist überfordert und hat die Notbremse gezogen, aber das richtet unglaublich viel Schaden an.«
Die Essener Tafel begründet ihre Entscheidung für einen Aufnahmestopp von nichtdeutschen Staatsbürgern mit der Entwicklung ihres Kundenstamms. Da der Anteil ausländischer Kunden infolge des Flüchtlingszuzugs auf 75 Prozent gestiegen sei, würden zurzeit nur Menschen mit deutschem Personalausweis aufgenommen.
Die Berliner Tafel versorgt rund 50.000 Menschen an 45 Ausgabestellen im Monat. Seit Beginn der großen Fluchtbewegungen 2015 sei die Kundenzahl um rund 4000 im Monat gestiegen. Um Spannungen zu vermeiden, gebe es Losverfahren oder feste Zeitfenster für die Abholung der Lebensmittel. Falls eine der Stellen in Berlin an ihre Grenzen kommt, kann sie einen vorübergehenden Aufnahmestopp für Neukunden verhängen. Der gelte dann aber für alle bedürftigen Menschen, unabhängig von der Nationalität, sagte Werth.
Ramelow und Göring-Eckhardt sprechen von »Hilfeschrei«
Der Aufnahmestopp für Ausländer bei der Essener Tafel wird zunehmend überregional und als Armutsproblem debattiert. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) bezeichnete die Entscheidung der Tafel als »Hilfeschrei«. Die Politik müsse »das Problem, das dahinter steckt, erkennen und lösen«.
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Ramelow sagte dem in Berlin erscheinenden »Tagesspiegel« (Samstag), die Tafeln leisteten »wichtige Arbeit, sind aber oftmals einfach überfordert«. Zu dem Vorgehen der Essener Tafel erklärte er: »Womöglich hätten die Verantwortlichen vor Ort eine andere Struktur der Verteilung der Lebensmittel finden können.« Dann wäre die Entscheidung, einen Teil der Antragsteller abzuweisen, überflüssig gewesen. Rassistisch sei das Vorgehen aber nicht.
Ramelow fügte hinzu: »In meinen Augen ist es einer Gesellschaft wie der unsrigen unwürdig, wenn Menschen wie Bittsteller behandelt werden und sich in Schlangen stellen müssen, um Nahrungsmittel zu erhalten, damit sie wenigstens einigermaßen über die Runden kommen.« Bund, Länder und Kommunen müssten sich mit der Frage beschäftigen, welche sozialen Angebote für arme Menschen gemacht werden und ob sie ausreichen, damit gesellschaftliche Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden können.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte die künftige Bundesregierung auf, für mehr soziale Sicherheit zu sorgen und Menschen wirksam vor Armut zu schützen. Vor allem Familien mit Kindern müssten deutlich entlastet werden, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Samstag). Wer arbeitslos sei, müsse eine soziale Absicherung bekommen, die auch wirklich vor Armut schütze.
Die Entscheidung der Essener Tafel, keine Ausländer mehr als Neukunden aufzunehmen, halte sie für falsch, erklärte die Grünen-Politikerin. Wie Ramelow sprach sie von einem »Hilferuf« von engagierten Freiwilligen, die dieser Not nicht mehr Herr werden. Es handele sich nicht um rechte Meinungsmache.
Demonstration und Ministerbesuch in Essen
Unterdessen besuchte der nordrhein-westfälische Minister für Integration, Joachim Stamp (FDP), am Sonnabend dies Essener Tafel. Nach Gesprächen und einem Abstecher in den Ausgaberaum lobte Stamp die Arbeit der Ehrenamtlichen: »Das ist eine ganz wichtige Leistung, die man anerkennen muss. Es gibt hier keine Rassisten, sondern es gibt hier viele engagierte Mitarbeiter, die etwas für alle in der Essener Gesellschaft tun wollen.« Seine ablehnende Position zum vorübergehenden Aufnahmestopp der Tafel für Ausländer wiederholt der Minister aber auch: Bei dem Angebot solle nicht die Herkunft, sondern die Bedürftigkeit entscheidend sein.
Auf der anderen Seite des Wasserturms demonstrierten derweil ein Dutzend Personen friedlich gegen den Aufnahmestopp. Veranstalter der Kundgebung war der Essener Verein Anti-Rassismus-Telefon. »Eine rassistische Vorgehensweise« wirft eine Sprecherin der Tafel vor und sagt schnell hinterher: »Das heißt nicht, dass die Ehrenamtler an der Tafel Rassisten sind.« Die Stadt hätte den Beschluss verhindern müssen.
Auch die Stadt Essen zeigte sich am Samstag vor Ort. Sozialdezernent Peter Renzel verwies auf den geplanten Runden Tisch. Das Gremium soll eine Neuregelung diskutieren. Teilnehmen sollen die Tafel, die Stadt, die Wohlfahrtsverbände und Migrantenorganisationen. Wann er das erste Mal tagen wird, wollte Renzel nicht genau sagen. »Bald« und »unter Ausschluss der Öffentlichkeit«.
Der Vorsitzende des Tafel-Trägervereins, Jörg Sartor, betonte noch einmal, dass es eine vorübergehende Maßnahme sei. »Selbstverständlich haben wir gesagt, dass wir danach andere weitergehende Lösungsvorschläge uns überlegen müssen.« Es sei sehr hilfreich, dass der Minister und die Stadt den Verein unterstützten, »Lösungsansätze zu finden«. Agenturen/nd
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