Trümmerstücke des Großen Sinns
Christopher Eckers Erzählungen sind ein grandioses Gemenge aus kryptischer Prägnanz und wahnwitziger Wortartistik
Man könnte sie vergleichen. Mit Edgar Allan Poes makabren Monstrositäten. Mit Franz Kafkas grotesken Grauenerregungen. Mit Ernst Jüngers surrealen Symbolismen in »Das abenteuerliche Herz«. Man könnte. Indes: Jeder Vergleich mit Bedeutendem, Großem, gleichsam Eingeschreintem - so ehrenvoll und erhebend er gemeint sein mag - setzt das Verglichene auch dem Verdacht aus, etwas eigentlich Epigonales, Imitiertes, gar Plagiiertes zu sein. Deshalb sollen die 87 Erzählungen, die Christopher Ecker mit dem Band »Andere Häfen« vorlegt (und die gleichwohl keinen Vergleich scheuen müssen), nicht verglichen werden. Es sind Urschriften, deren epische Essenz einem singulären kreativen Kosmos entströmte. Es sind glänzende Trümmerstücke des Großen Sinns, dessen Erschließung sich immer und immer wieder im Turnus von Aufflackern, Annähern und Absinken erschöpft: Sinn-Los.
Es ist wie das Eintauchen in einen geistigen Jungbrunnen, wenn die tagtäglich von trüber Durchschnittlichkeit durchweste Sinfonie der Desinformation (mitsamt ihrer sprachlichen Verelendung) in ihr geistig-geniales Gegenstück übergeführt wird: die belletristische Uninformation. Denn (wie es in der Erzählung »Einen See zuschaufeln« heißt): »Alles Sprechen oder Schreiben ist nur ein vergeblicher Versuch, eine Leere zu füllen, die unerschöpflich ist, der Versuch, einen See zuzuschaufeln, dessen Grund unausgelotet bleibt.«
Es gibt berühmte erste Sätze, die in ihrer strahlenden Erhabenheit mit wenigen Worten ein ganzes fantastisches Universum ausleuchten. Zum Beispiel: »Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.« - Leo Tolstoi, Anna Karenina. Oder: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« - Franz Kafka, Die Verwandlung. Oder: »Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein; dies hat, so sonderbar es erscheinen mag, doch seine Berechtigung.« - Karl May, Winnetou I.
Wir wollen ja nicht vergleichen, schon gar nicht mit Tolstoi, Kafka oder gar May. Aber: Christopher Ecker produziert in Serie erste Sätze, die sich, aneinandergereiht, als veritables Spalier hochmütiger Pracht präsentieren: »In ihrem angeborenen Bedürfnis, sich nützlich zu machen, stößt man bisweilen auf die alten Götter. ... Es ist jedes Mal ungewiss, als wer wir erwachen. ... ›Was sind wir?‹, fragte er mit diesem überlegenen Lächeln, das seine Reden begleitete, sobald er sicher war, nicht mehr verstanden zu werden. ... In den ersten Tagen nach meinem Tod scherte ich mich kaum um die beiden Mitreisenden, aber bald fühlte ich mich durch ihre schiere Anwesenheit belästigt, hätte ich diese, vorsichtig ausgedrückt, Reise doch gerne allein angetreten. ... Schon als Kind hatte er dieses Bedürfnis verspürt, aber erst seit einigen Jahren wusste er, wie er den Arm zubereiten würde. ... Wie vielen Veränderungen ging auch dieser ein seltsamer Geruch voraus. ... Die Romantrilogie, die sich, was ich für bedenklich halte, an ein jugendliches Publikum wendet, beschreibt in konventioneller Manier die haarsträubenden Abenteuer mehrerer Generationen einer Sippe, die durch einen endlosen Supermarkt zieht. ... Meine Tarnung war so gut, dass selbst ich nichts davon wusste, und so erfuhr ich erst, als der Einsatzbefehl kam, ein Schläfer zu sein. ...«
Das grandiose Gemenge aus kryptischer Prägnanz, assoziativer Montierlust und grenzenlosem linguistischem Pläsier prägt wie frühere Werke des 1967 in Saarbrücken geborenen Autors auch dieses Miniaturenkabinett des kuriosen Furors und der bizarren Verhängnisse. Wer dem Sog der wuchtigen Ecker-Romane »Fahlmann« und »Der Bahnhof von Plön« erlag, wird sich dem mäandernd-wollüstigen Imaginationsstrudel der ausschließlich im Umfang sich bescheidener gebenden »Anderen Häfen« ebenso wenig zu entziehen vermögen.
Was die Geschichten in Gehirnen und Gemütern der Leser anrichten, ist indes zweifellos schwer abhängig von deren (also der Gehirne und Gemüter) Durchlässigkeit für den offensiven Einfall und Einfluss wahnwitziger Wortartistik. Wobei das Abschildern der literarischen Begebnisse von tiefer Kenntnis der sozialen Menagerie und der humanistischen Bildung zeugt. Vielem, das auf den ersten Blick eine Omnipräsenz des Nonsens suggeriert, eignet mehr Realitäts- und Sinntiefe als Dutzenden Darbietungen der Hauptstrommedien. Es gibt keine Pointen in jenem banalen Sinn, wie ihn die nach einem Aha-Jauchzen Gierenden ersehnen. Stattdessen immer wieder der Hieb mit der schweren Tatze des Nichts.
Aber auch die aktuelle Kamera läuft mit. So geht die Erzählung »Blutwurst aus Eigenblut« der faszinierenden Frage nach, ob »man in diesem Fall von ›Kannibalismus‹ sprechen« kann. Hintergrund ist ein Vorfall bei der Bundeswehr, als sich 2007 zwei Unteroffiziere von einer befreundeten Krankenschwester für dieses Projekt Blut abnehmen ließen. Und »Keine Geschichte« (so der Titel) über »ein perfekt erhaltenes Konzentrationslager« - es handelt sich um das ehemalige deutsche KZ Struthof im Elsass - liest sich gleichsam als einer der wenigen intelligenten Kommentare zur Debatte um den »KZ-Besuch als Pflichttermin« (wie eine Zeitung schrieb).
Die Erzählung »Der brennende Berg« ist die für mich poetischste des gesamten Schriftwerks. Darin wird berichtet von »zähen Stunden mit Stern und Focus in nach Lavendel duftenden Wartezimmern, die in der Erinnerung zu einem einzigen limbusartigen Raum verschmolzen«. In einer Vorbemerkung, die Martin Heidegger ab der 7. Auflage (1953) seinem Hauptwerk »Sein und Zeit« voranstellte, steht der Satz: »Fragen können heißt: warten können, sogar ein Leben lang.« Christopher Eckers Frag-Würdigkeiten über Sein, Zeit und Wartezimmer sollten in Letzteren zur Lektüre ausliegen. Zähe Stunden wären dann Vergangenheit.
Christopher Ecker: Andere Häfen. Erzählungen. Mitteldeutscher Verlag. 208 S., geb., 16,95 €.
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