Das Meer in uns

Über Dinge des Lebens, die größer sind als wir: »Solaris« von Stanislaw Lem in der Box des Deutschen Theaters

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Große Themen brauchen viel Platz? Nicht unbedingt, eine Raumkapsel genügt völlig. Stanislaw Lem war der Philosoph unter den Science-Fiction-Autoren. Ein höchst pessimistischer zumal. Liest man die zwei Bände seiner »Philosophie des Zufalls« (zu denen Herbert Hörz 1989 einen immer noch lesenswerten Essay schrieb), dann lässt sich von »Solaris« (1961) eine Linie bis ins digitale Zeitalter ziehen.

Also sitzen wir vor der Raumstation, die über Solaris schwebt, wenn auch in ramponierter Weise. Nur noch zwei Wissenschaftler findet der Psychologe Kelvin vor, als er hier anlangt - und diese reagieren hochgradig verstört. Hier herrscht pure Angst. Wovor, das will die Inszenierung von András Dömötör ergründen. Die Bühne von Sigi Colpe gibt einen Fingerzeig: eng und funktional, mit winzigen Luken und einem V-förmigen Spalt in der Mitte repräsentiert sie einen Ort technizistischer Selbstentfremdung. Wie ein Gehirn, das über dem - durch ein Fenster erahnbaren - Ozean des Unterbewusstseins schwebt, jedoch offenbar auf unüberwindliche Weise von diesem getrennt.

Lässt sich die Enge unserer Existenz auf sinnvolle Weise entgrenzen - durch Träume etwa? Diese bringen auf unerwartete Weise lange Weggesperrtes zutage. Aber die Bilder im Kopf, hier in der Raumkapsel über Solaris, materialisieren sich. Die Besatzungsmitglieder nennen diese Kopien von realen Menschen auch »Gäste« - das Thema des künstlichen Menschen, der lernt zu fühlen und lieben, offenbart unsere Hilflosigkeit im Umgang mit etwas Fremdem, das auch aus uns selbst kommt.

Eine Versuchsanordnung für drei starke Schauspieler (Elias Arens, Jeremy Mockridge und Timo Weisschnur) und ein wiederkehrendes Trugbild, Kelvins Ex-Frau Hari (auf elegische Weise eindringlich: Esther Maria Hilsemer), die seit zehn Jahren tot ist. Dömötör setzt auf das Absurde der Szenerie, scheut nicht den grellen Effekt. Was ist von Menschen zu halten, die in ferne Galaxien reisen, aber über die Geheimnisse ihres eigenen Ichs so gut wie nichts wissen? Für Lem ist es ein Symptom entgrenzter Fortschrittsideologie. Was haben die Forscher hier überhaupt zu suchen, wollen sie Solaris kolonisieren?

Lem schreibt über Grenzen des Wachstums - und hebt dabei mit einem Einspruch seines polnischen Philosophenkollegen Leszek Kolakowski an, den der offizielle Marxismus/Leninismus fatalerweise ins dissidentische Abseits schob. Dieser kommt im Nachdenken über das Profane und das Heilige zum Schluss, dass, wenn das Sakrale vollends aus der Kultur verschwunden sein werde - purer Nihilismus herrsche, die Herrschaft der sinnfreien Sinnsimulation durch Apparate. Damit ist klar, mit »Solaris« erforscht Lem nichts weniger als die religiösen Fermente von Kultur, die diese erst am Leben erhalten.

Dieser Lesart war André Tarkowski gefolgt, als er 1972, mitten in der angeblich so geistverlassenen Breschnew-Ära, sein Mosfilm-Opus »Solaris« mit Donata Banionis als Kelvin verfilmte (Banionis spielt dann auch bei Konrad Wolfs den Goya). »Solaris« ist ein tief melancholisches Werk über jene Dinge des Lebens, die größer sind als wir und die von uns das verlangen, was wir nicht mehr aufzubringen vermögen: Demut vor der Schöpfung. Nur noch ein Gott kann uns retten? Aber bislang haben wir ihn nicht gefunden, auch die Raumstation-Besatzung über Solaris nicht. Stattdessen sehen sie sich von lauter Dämonen umlagert, die alle dem eigenen Spiegelbild ähneln. Die dabei entstehende Atmosphäre latenter Panik stellt unserer Erkenntnis-Verirrungen bloß.

Dömödör streicht als erstes die sakrale Dimension durch, geht das Thema sehr viel weniger zeremoniell an als etwa Tarkowski, geradezu respektlos. Natürlich, er gehört zu der Generation, die sich das Pathos gern mit Ironie vom Leibe hält. Aber auch dieser sehr gegenwärtige Zugang offenbart wesentliches. Etwa, wenn sich Kelvin in dringender Angelegenheit mit dem Archiv verbinden lässt. Aber jene »Apokryphen«, die er sucht, existieren nur als gedrucktes Buch. Seine Wischbewegung, der Grundgestus einer I-Phone-Generation, hier gedankenlos-automatisiert auf ein altes Buch übertragen, spricht Bände. Es ist ja nicht so, dass wir mehr verstehen, bloß weil die Rechen-Apparate immer leistungsfähiger werden - eher im Gegenteil.

Das Trio, das manchmal - wenn Hari als Kopie oder Reinkarnation hinzu tritt - auch zum Quartett wird, wird von einem schauspielerischen Hochenergiezustand getragen, wie man es derzeit nur selten am Deutschen Theater erlebt. Und Dömötör findet dann doch auch sehr eigene, durchaus ikonographische Bilder dieser Forscher, die eigentlich Verlorene, im Unendlichen des Raums Ausgesetzte sind und sich an die Reste einer Mission klammern, an die anderswo (auf der Erde) niemand mehr glaubt. Diese Mischung aus Verzweiflung und Komik kann gewiss nicht mit Tarkowskis meditativ die apokalyptische Drohung bannendem Meisterwerk konkurrieren, aber besitzt zweifellos eine frappierende Vitalität.

Das Bild etwa des von seinen beiden skrupellosen Kollegen zwecks Gedankenübertragung an den Ozean von Solaris mit Apparaturen verkabelten Kelvin scheint grandios - halb ein auf dem Altar eines ominösen Fortschrittsgottes Geopferter, halb eine skurrile Figur aus dem Fundus des Raumfahrermilieus, das Dömötör hier parodiert.

Für eine kleine Raumstation in der noch kleineren DT-Box erscheinen manche Fragen allzu groß. Da ist Unterspielen ein plausibler Ansatz, der sich einfallsreich der eigenen Raumkoordinaten versichert - um ja nicht den Kontakt zur Bodenstation zu verlieren.

Nächste Vorstellung: 11. und 21. März

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