- Kultur
- Uwe Tellkamp und Jens Spahn
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen
Was Uwe Tellkamp und Jens Spahn verbindet: Das Treten nach unten gehört unter Eliten zum guten Ton
Als die Schriftsteller Uwe Tellkamp und Durs Grünbein vor 900 Zuhörern im Dresdner Kulturpalast aufeinandertrafen, um über Meinungsfreiheit zu debattieren, da dürften die Dichter schon geahnt haben, dass auch mehr als eine Woche später noch über diesen Abend geredet würde. Zumal derzeit die Leipziger Buchmesse stattfindet. Ein paar rechte Verlage haben es dort geschafft, viel Aufmerksamkeit für ihre Rolle als Opfer einer angeblichen Gesinnungsdiktatur zu erhalten - mit freundlicher Unterstützung jenes Teils des Establishments, der sich fortwährend seines eigenen Gutseins bestätigen will.
Immerhin, in Dresden ging es um Argumente. Tellkamp gab den um das christliche Abendland besorgten Bürger, Grünbein den Verteidiger des westlichen Wertekanons. Der Aufruf »Charta 2017«, den Tellkamp im vergangenen Herbst mitunterzeichnet hatte, kritisierte vor allem eine einseitige Medienberichterstattung. Er sehe »in der Mainstreampresse nur Jubelorgien« über die Bundesregierung unter Angela Merkel, während Kritiker diffamiert und »in die rechte Ecke gestellt« würden.
Das rückte Grünbein gerade: »Die Freiheit, sich zu äußern, begründet kein Recht, sich unwidersprochen zu äußern.« Deutschland, polterte Tellkamp weiter, habe ein Problem mit dem Islam. Seine Äußerung zu Flüchtlingen wurde besonders oft zitiert: »Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent.« Parallel geriet der mittlerweile als Bundesgesundheitsminister vereidigte Jens Spahn (CDU) in die Schlagzeilen. Der »WAZ« sagte er: »Niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.« Und: »Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist aktive Armutsbekämpfung.«
Die Diskussionen um Tellkamp und Spahn verlaufen unabhängig voneinander, so als hätten die beiden Standpunkte nichts miteinander zu tun. Dabei eint sie die Lust am Treten nach unten, das unter Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Kultur zum guten Ton gehört. Zur Beteiligung jener Massenmedien, die Tellkamp als zu links bezeichnet, an diesem Treten nach unten soll hier ein Lektürehinweis genügen: Kathrin Hartmann hat diesem Aspekt in ihrem Buch »Wir müssen leider draußen bleiben« ein ganzes Kapitel gewidmet.
Es lässt sich jedenfalls ziemlich genau datieren, seit wann die Eliten in aller Öffentlichkeit orgiastisch Stimmung gegen Erwerbslose, Migranten und Flüchtlinge machen können. Im August 2005, also kurz nach der Einführung von Hartz IV, diagnostizierte ein Papier aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Soziales unter Wolfgang Clement (SPD) einen »massiven Sozialbetrug« bei Sozialleistungsbeziehern. Diese »Mitnahme-Mentalität« schade den Arbeitswilligen und damit den »tatsächlich Bedürftigen«. Viele machten »mal eben ein paar schnelle Euro auf Kosten der Sozialkasse«. Clements Mitarbeiter griffen zu einem suggestiven Vergleich: »Biologen verwenden für ›Organismen, die auf Kosten anderer Lebewesen leben‹, übereinstimmend die Bezeichnung ›Parasiten‹.«
Bis zur Abwahl der rot-grünen Bundesregierung im Herbst 2005 blieb Clement Minister. Zurücktreten musste kurz zuvor der Bremer Wirtschaftssenator Peter Gloystein (CDU), nachdem er bei einer Weinfesteröffnung einen Obdachlosen mit Sekt übergoss und spottete: »Hier hast du was zu trinken.« Es sollte die bislang letzte Demission eines Politikers sein, der kraft seines Amtes die Schwächsten erniedrigte.
2006 veröffentlichte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung die Studie »Gesellschaft im Reformprozess«. Eines der Resultate schaffte es in die Massenmedien: Immer mehr Menschen in Deutschland gehörten einem Milieu an, das die Sozialwissenschaftler als »Abgehängtes Prekariat« bezeichneten. Der damalige SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck teilte anschließend im Gespräch mit der »F.A.S.« mit, es gäbe im Land ein »Unterschichtenproblem«, denn am unteren Rand des Gemeinwesens seien Aufstiegsbestrebungen und entsprechende Bemühungen kaum noch zu finden. Weil die Studie methodisch mit dem Instrument der Sinus-Milieus arbeitete und neue Klassenanalysen außen vor ließ, konnte Beck die Resultate als Mentalitätsproblem einer »Unterschicht« bagatellisieren.
Der damalige arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Stefan Müller, regte im Juni 2006 in »Bild« an, einen verpflichtenden Arbeitsdienst für ALG-II-Empfänger einzurichten: »Alle arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen müssen sich dann jeden Morgen bei einer Behörde zum Gemeinschaftsdienst melden und werden dort zu gemeinnütziger Arbeit eingeteilt - acht Stunden pro Tag, von Montag bis Freitag.«
Kurt Beck rief 2006 auf dem Weihnachtsmarkt in Wiesbaden einem ihn für die Arbeitsmarktpolitik seiner Partei kritisierenden Obdachlosen zu: »Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job!« Andreas Stepphuhn, seines Zeichens »SPD-Sozialexperte«, sprang Beck via »Bild« bei: »Wer dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht, hat kein Recht auf staatliche Unterstützung.« Und Franz Müntefering (SPD) zitierte aus der Bibel: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«
Im Mai 2008 meldete sich der CDU-Hochschulpolitiker Gottfried Ludewig zu Wort und forderte ein »doppeltes Stimm- und Wahlrecht« für jene, »die den Wohlfahrtsstaat finanzieren und stützen«. Im Dezember desselben Jahres verlangte Henner Schmidt, FDP-Fraktionsmitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, Hartz-IV-Bezieher auf Rattenjagd zu schicken. Leuten, »die ansonsten Pfandflaschen sammeln«, könne man doch für jede tote Ratte einen Euro zusätzlich zum Regelsatz auszahlen.
Der damalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) tat sich 2008 als Armutsratgeber hervor: »Wenn die Energiekosten so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können.« Als 2009 debattiert wurde, ALG-II-Bezieherinnen pauschal Geld für Verhütungsmittel auszuzahlen, auf dass sich die »Unterschicht« nicht vermehre, da meinte der FDP-Landesvorsitzende aus Bremen: »Eine Erhöhung der Regelsätze werden die Empfängerinnen eher in den nächsten Schnapsladen tragen.« Sein Parteikollege Martin Lindner, damals Berliner Spitzenkandidat der Freidemokraten, wünschte sich daraufhin eine Kürzung der Regelsätze um 30 Prozent, um Steuersenkungen für den »produktiven Großteil der Gesellschaft« zu finanzieren.
Das Bundesverfassungsgericht stellte Anfang 2010 fest, dass die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze nicht nachvollziehbar war. Hier erlebte die Debatte ihren Höhepunkt: Es ging fortan vorwiegend darum, ob der Regelsatzposten für »Genussmittel« noch gerechtfertigt sei. Am Ende des Jahres strich ihn die Regierung und setzte an seine Stelle einen Posten für »Mineralwasser«. Der Regelsatz für Alleinstehende stieg - um fünf Euro. »Bild« initiierte zuvor eine monatelange Kampagne gegen Arno Dübel aus Hamburg, der als »Deutschlands frechster Arbeitsloser« beispielhaft stehen sollte für jene »spätrömische Dekadenz«, an die der Sozialstaat den FDP-Politiker Guido Westerwelle erinnerte. Claudia Hämmerling (Grüne) schlug im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur vor, ALG-II-Empfänger zum Aufsammeln von Hundekot zu verdonnern, derweil die damalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) die Idee eines obligatorischen Arbeitsdienstes für Langzeiterwerbslose aufwärmte.
2010 erschien auch Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab«. Die anschließende Debatte bedeutete einen Dammbruch für die enthemmte Verbindung von Klassenhass und Rassismus. Für Sarrazin liegt in der »Vermehrung der Bildungsarmen« der Kern aller politischen Probleme, weil Deutschland dadurch verwahrlose. Er richtete in später widerlegten Tatsachenbehauptungen seinen Fokus auf Muslime. Sarrazin schrieb: »In jedem Land kosten die muslimischen Migranten aufgrund ihrer niedrigen Erwerbsbeteiligung und hohen Inanspruchnahme von Sozialleistungen die Staatskasse mehr, als sie an wirtschaftlichem Mehrwert einbringen.«
Der Islam wurde zum Feindbild, der Mensch blieb ein Kostenfaktor. Entstanden ist ein soziales Klima, in dem die AfD aufsteigen durfte und sich nun mit den meisten anderen Parteien darin überbieten kann, Erwerbstätige gegen Erwerbslose, »Deutsche« gegen »Ausländer«, Alte gegen Junge und Männer gegen Frauen auszuspielen.
Erst die Entwicklung der Diskussion um »Unterschicht« und »Integration« seit 2005 erklärt, warum sich Jens Spahn mit kaum mehr als sarkastischen Kommentaren konfrontiert sah und weshalb es bereits vor einem Jahr keine Konsequenzen nach sich zog, als Peter Tauber (CDU) einem Internetnutzer mitteilte: »Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, brauchen Sie keine drei Minijobs.«
Wie tief die Nützlichkeitsideologie selbst in den Köpfen wohlmeinender Weltbürger verankert ist, das zeigt der Fall Tellkamp. Es wurde viel Aufwand betrieben, um die Aussage zu widerlegen, 95 Prozent der Geflüchteten wanderten in die Sozialsysteme ein. Warum bestand kaum jemand darauf, dass es ein legitimes Begehren ist, der Armut zu entfliehen aus einem Land, für dessen desolate Lage Deutschland mitverantwortlich ist?
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.