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  • Neuer Heimatfilm von Josef Bierbichler

Niemand entkommt der Vergangenheit

»Zwei Herren im Anzug« von Josef Bierbichler ist ein Heimatfilm, der den Mief mit Axt und Mistgabel vertreibt

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Da schwimmen zwei Hüte. Sie sind deutlich zu sehen, aber niemand schert sich drum. Also fährt das Boot darüber hinweg, so als gäbe es nichts als Plastikmüll und Algen. Leichen könnten unter Wasser driften? Egal, Hauptfiguren wären sie ohnehin nicht. Langsam treibt die Kamera auf den Protagonisten zu. Dieses am Horizont auftauchende Wirtshaus, das direkt am Starnberger See in Bayern liegt, scheint den Blick zu erwidern. Die Geschichte startet an jenem Ort, und hier wird sie auch enden.

Es ist Juni 1984. Der Kalte Krieg erwärmt sich. Politikerdarsteller und Industriekapitäne geben vor, den Weltfrieden zu planen. Dabei agitieren sie und wüten, sie spalten und lügen, sie rüsten auf und durchleben fette Jahre. In einem Hinterzimmer des Gasthofes keucht und schnauft Pankraz. Gerade ist die Beerdigung seiner Frau Theres über die Bühne gegangen, da türmt sich vor ihm schon der nächste Emotionsbrocken auf. Über 80 Jahre hat er nun auf dem Buckel, und erst jetzt fordert Semi von ihm ein Vater-Sohn-Gespräch. »Ich muss mich erinnern«, sagt der Alte, und dann kramt er aus einer Blechdose verblasste Fotografien hervor.

Josef Bierbichler hält sich ungern mit Kinkerlitzchen auf. Er hat als Schauspieler mit Regisseuren wie Werner Herzog, Herbert Achternbusch, Hans Steinbichler und Michael Haneke zusammengearbeitet. In seiner ersten eigenen Regie-Arbeit sind sie deutlich erkennbar, die Einflüsse dieser stilistisch partiell so verschiedenen Künstler, denen eines gemeinsam ist: Sie produzieren derbe Szenen und surreale Bilder. Eine Vorliebe, die Bierbichler mit ihnen teilt. »Zwei Herren im Anzug« ist ein Heimatfilm, der den Mief mit Axt und Mistgabel vertreibt.

Bierbichler hat Motive seines 2011 erschienenen Romans »Mittelreich« verfilmt. Welch ein Wort: mittelreich. Das ist diese Familie in jedem Fall. Materiell fehlt es ihr an nichts, und genau das scheint das Problem zu sein. Im Buch erzählt Bierbichler teilweise autobiografisch von drei Generationen, von der Last des Erbes und vom Verdrängen des Vergangenen. Letzteres ist der Grund dafür, dass da eine fühlbare Fremdheit im Raum steht, derweil sich Pankraz und Semi gegenübersitzen. Der Sohn konfrontiert seinen Vater mit Trauma und Scham; und als Pankraz zu berichten beginnt, da taucht die Leinwand ein in eine Schwarz-Weiß-Welt. Er sei damals erst 31 gewesen, verteidigt er sich. »Alles war leicht und vollkommen«, salbadert er. Seine Zeit als Soldat? »Ich weiß nichts mehr. Nur weiße Landschaften, sonst nichts.«

Opernsänger will Pankraz in jungen Jahren eigentlich werden. Das lässt sein alter Herr nicht zu, der ihn drängt, das Wirtshaus zu übernehmen. Bierbichler, der sowohl den alten Pankraz als auch dessen Vater spielt, entfaltet durch seine Präsenz eine Wirkung, die kaum der Worte bedarf, um begreiflich zu machen, wie autoritär es zugeht im Familienbetrieb. Da muss sich der junge Pankraz, dessen Rolle ebenso wie die des Semi an Bierbichlers Sohn Simon Donatz ging, zu einem Mann entwickeln, dem im Laufe der Jahre jede Zärtlichkeit abhandenkommt.

In einer der stärksten Szenen steht Pankraz irgendwann in den 50er Jahren nachts allein am See. Ein schwerer Sturm hat gerade das Hausdach zerstört. Reinstes Wagnerwetter. Natürlich klingen Pankraz peitschende Töne des Bayreuther Musikdesperados in den Ohren. Dann zitiert er Shakespeare und Hölderlin: »Verfluchtes Erbe. Ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt! Ich hasse dieses Haus und diesen ganzen Heimatkram!«

Immer wieder ruft ihn seine Frau Theres (Martina Gedeck) zur Räson. »Reiß di zamm!«, schreit sie - vergebens. So sehr ist Pankraz damit beschäftigt, sich selbst zu bedauern, dass er nie einen Zugang zu seinem Sohn findet. Darum erfährt er erst vor diesem aus nur einer Person bestehenden Nachbeerdigungstribunal vom sexuellen Missbrauch, den Semi als Schüler eines katholischen Internats im Kindesalter erlitten hat. Er wusste auch nicht, dass die als verschollen geltende »oide Mare« während der im Fernsehen übertragenen Inthronisation eines neuen Papstes vor Semis Augen zum Himmel aufgestiegen ist.

Pankraz erinnert sich an immer mehr, und das Publikum beobachtet eine Tragödie. Trotzdem ist die Kamera von Tom Fährmann nie aufdringlich. Sie lauert am Rand des Geschehens und pirscht sich an die Figuren heran, wenn sie es zulassen.

Wie sehr Bierbichler dieser Film am Herzen liegt, das beweist der bis in die kleinste Nebenrolle klug besetzte Cast. Die große Fassbinder-Mimin Irm Hermann verkörpert die fromme und ewig meckernde Tante Philomena. Johan Simons und Peter Brombacher spielen die titelgebenden Herren im Anzug, die mehr oder weniger schlaue Sprüche kloppen und ansonsten nichts mit der Handlung am Hut haben. Und da ist Thomas Ostermeier, der Intendant der Berliner Schaubühne, in einer Rolle als tumber Frontsoldat. In einer schrecklich langen Einstellung wird er mit Pankraz zu einem »Sondereinsatz« beordert. Die beiden ermorden dabei Juden mit Auto-Abgasen.

»Ich war zwar nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nie«, sagt Pankraz ein paar Jahre nach Kriegsende in seinem Haus, nachdem er eine Faschingsparty wegen des bierseligen Führerkults abbrechen musste. Jeder Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen, so sehr er sich auch dagegen wehren mag. Heimat ist nichts Selbstgewähltes. Deshalb tun sich so viele Deutsche schwer damit. Die Heimat entzieht sich der Kontrolle, weil Leben immer Geworfensein bedeutet.

Bierbichlers Film präsentiert am bayrischen Beispiel ein für die Nachkriegszeit typisches Milieu, dessen Nachfolgegenerationen diesseits und jenseits zwischenzeitlich geltender innerdeutschen Grenzen heute und für alle Zeit die Verantwortung tragen müssen für alles, was zum Holocaust führen konnte.

Semi schlägt das Erbe aus und vertieft damit den Graben zu seinem Vater. Aber auch er entkommt der Vergangenheit nicht, dieser 30-Jährige, der Oberbayern den Rücken gekehrt hat und zurück ist, um Gericht zu halten. Bierbichler zeigt, was es heißt, Deutscher sein zu müssen. Er braucht für seine künstlerische Haltung kein plakatives Moralgeheul, wie es im deutschen Historienkino so häufig zu sehen ist. Die Illusion präsentiert sich realer, als es in einem engagierten Zeitgeschichtsdrama möglich wäre.

»Zwei Herren im Anzug«, Deutschland 2017. Regie: Josef Bierbichler, Darsteller: Josef Bierbichler, Martina Gedeck, Simon Donatz. 139 Min.

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