- Politik
- Merkels Regierungserklärung
Floskeln für den Zusammenhalt
Angela Merkel präsentierte ihr Regierungsprogramm und verlor sich schnell wieder im Ungefähren
Fast schien es am Mittwochmittag so, als hätte Angela Merkel sich für ihre letzte Amtszeit vorgenommen, endlich Klartext zu reden. Die Bundeskanzlerin, die sich und ihre Politik sonst gern in unverbindliche Floskeln hüllt, zog in den ersten zehn Minuten ihrer Regierungserklärung ziemlich schonungslos Bilanz. Dass der Regierungsbildungsprozess 171 Tage gedauert habe, so Merkel, sei auch ein Zeichen dafür, »dass sich in unserem Land ganz offenkundig etwas verändert hat«. Obwohl es den Deutschen wirtschaftlich gut gehe, seien die Sorgen um den Zusammenhalt der Gesellschaft größer geworden. Viele fragten sich, ob der Rechtsstaat noch funktioniert. Die Regierungspartner Union und SPD hätten den Unmut im Land »durch erhebliche Verluste zu spüren bekommen«. Die Debatte um die Flüchtlingspolitik habe »unser Land bis heute gespalten und polarisiert«, so Merkel, die auf ihren Wahlkampftouren im Osten sehr nachdrücklich erfahren musste, wie groß der Unmut bei vielen ist. Ihr eigentlich banaler Satz »Wir schaffen das« sei Kristallisationspunkt dieser Debatte geworden.
Tatsächlich übte die Kanzlerin auch Selbstkritik. So habe man auf den Bürgerkrieg in Syrien, das Wüten des Islamischen Staats und den Zerfall Libyens »zu lange und zu halbherzig reagiert«, auch weil man gehofft habe, »dass uns diese Probleme nicht betreffen«. Im Rückblick sei das »naiv« gewesen. Eine solche Flüchtlingskrise dürfe sich nicht wiederholen. Merkel lobte das umstrittene EU-Türkei-Abkommen und betonte: »Ich werde es jedoch immer verteidigen.« Immerhin rang sie sich doch noch zu Kritik am militärischen Vorgehen der Türkei in Syrien durch. Was in Afrin passiere, »verurteilen wir auf das Schärfste«.
Dann spulte Merkel all die sozialpolitischen Segnungen herunter, auf die sich die Koalitionspartner verständigt hatten: höheres Kindergeld, Mütterrente, eine Wohnraumoffensive für mehr Eigenheime und sozialen Wohnungsbau, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Schule und, und, und. Als die Sprache aber auf die Klimapolitik kam, wechselte Merkel wieder ins Ungefähre. Sie versprach das Ende der Kohleverstromung und die baldige Einhaltung der Pariser Klimaziele - allerdings ohne ein konkretes Datum zu nennen.
Zudem hagelte es Floskeln, die wie Powersätze aus einem Motivationsseminar wirkten: »Das Tempo des Handelns wird zum entscheidenden Faktor« oder »Deutschland - das sind wir alle«. Die Dynamik der Digitalisierung, die in den Griff zu kriegen mal wieder Chefsache werden soll, brachte Merkel auf die Formel: »Was immer digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden.«
Schließlich formulierte die Kanzlerin ihren ganz persönlichen Wunsch, dass im Jahr 2021 gesagt werde: »Die Gesellschaft ist menschlicher geworden. Spaltungen und Polarisierungen konnten verringert, vielleicht sogar überwunden werden. Und Zusammenhalt ist neu gewachsen.«
Auf die Kanzlerin folgte dem Reglement entsprechend der Chef der größten Oppositionsfraktion, die nun von der Alternative für Deutschland gestellt wird. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland nutzte den ersten Aufschlag in der Generaldebatte, um Kritik an der Rede seiner Vorgängerin zu üben: »Ein bisschen mehr Pathos, ein bisschen mehr Tiefgang hätte ich mir schon gewünscht«, so Gauland. Doch mehr Tiefgang hatte sein Redebeitrag ebenfalls nicht. Vielmehr stellte der ehemalige CDU-Staatssekretär wieder einmal unter Beweis, wie monothematisch seine jetzige Partei ausgerichtet ist, und kaprizierte sich einzig und allein auf die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Als seien die geringen Einkommen der Armutsrentnerin und der Dresdner Kassiererin, die er als Beispiele bemühte, direkte Folge der Merkelschen Flüchtlingspolitik.
SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles beklagte die Probleme in der Pflegebranche und die soziale Schieflage im Lande, als sei ihre Partei seit 30 Jahren in der Opposition. Kaum ein Wort zur eigenen (Regierungs-)Verantwortung. Stattdessen wollte sie »Brücken bauen« und lobte ihren »funktionierenden Kompass«. Im Stile einer neoliberalen Vordenkerin betonte sie: »Freihandel ist gut für alle.« Ob sie das auch vor afrikanischen Bauern oder südostasiatischen Textilarbeitern mit der gleichen Verve vorgetragen hätte?
Nahles brachte dann doch noch ein paar sozialdemokratische Floskeln zu Gehör und forderte »Mindeststandards sozialer Natur« für die EU. Stärke, so die Sozialdemokratin, entstehe durch Zusammenhalt. Ziel der Bundesregierung sei es, Vollbeschäftigung zu erreichen. Dass derzeit fast zehn Millionen Menschen in Deutschland Leistungen der Grundsicherung beziehen, ließ sie dabei aus gutem Grund unerwähnt.
Schließlich trat der Mann ans Rednerpult, der die SPD wieder in Regierungsverantwortung gebracht hatte. Doch FDP-Chef Christian Lindner gab sich an diesem Mittwoch erstaunlich staatstragend und versprach gar, einige Projekte der neuen Bundesregierung mitzutragen und wünschte dieser Erfolg. So unterstütze seine Partei etwa die geplante Grundgesetzänderung, um das Kooperationsverbot in der Bildung endlich zu streichen. Der FDP-Vorsitzende als verhinderter Bundesfinanzminister warf der Koalition einen unseriösen Umgang mit dem Geld vor. Niemals zuvor habe eine Regierung einen solchen Verteilungsspielraum gehabt. »Und dennoch reicht er nicht, um alle ihre Ausgabenwünsche zu finanzieren«, sagte er.
An den neuen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gewandt, sagte er: »Wenn sie das Recht durchsetzen wollen, werden wir sie gegen jede Kritik der SPD verteidigen.« Eine Anspielung auf Seehofers Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik als »Herrschaft des Unrechts«.
Auch LINKE-Fraktionschef Dietmar Bartsch hatte den CSU-Chef im Visier. »Herr Seehofer, im Übrigen gilt das Grundgesetz auch für Innenminister«, sagte Bartsch und verwies auf Seehofers jüngste Äußerungen, wonach der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Bartsch stellte richtig: »Rassismus, Ausgrenzung und Menschenhass gehören nicht zu Deutschland.« Auch Armut sollte nicht zu einem reichen Land gehören. Dass es sie dennoch gebe, sei »politisches Versagen«. 2,7 Millionen Kinder seien in Deutschland arm oder von Armut bedroht, so der Fraktionsvorsitzende. Von den 25 Euro, um die das Kindergeld in dieser Legislatur steigen solle, gebe es 15 erst im Wahljahr 2021. »Das spüren die Leute doch!« Bartsch kritisierte zudem, dass der Osten Deutschlands im Koalitionsvertrag keine Rolle spiele.
Von dieser schwarz-roten Koalition könne man festhalten, so Bartsch, dass sie keine große sei: »weder numerisch, noch vom politischen Anspruch«. Der Fraktionsvorsitzende kritisierte das Fehlen großer Reformvorhaben. Stattdessen gebe es viele Kommissionen und Flickwerk. »Wir können uns auf turbulente Jahre einrichten, weil es weder eine Liebesheirat noch eine Zweckhochzeit ist. Es ist einfach zum Scheitern verurteilt«, so das Fazit des LINKE-Politikers.
Der Fraktionschef der Grünen, Anton Hofreiter, gab sich kämpferisch: »Wir Grüne werden uns mit der Regierung ganz hart auseinandersetzen, denn wir sind in vielen Punkten grundsätzlich anderer Meinung.« Insbesondere die Klima-, Sozial- und Flüchtlingspolitik machte er als Politikfelder aus, auf denen die Grünen andere Positionen vertreten würden. Dabei hatten Hofreiter und Co. in den letztlich gescheiterten Koalitionsverhandlungen mit Union und FDP fast alle Kröten geschluckt.
Schließlich gab es Lob für Merkels Regierungserklärung. Er habe an ihr »geschätzt«, dass sie sich für einen stärkeren Zusammenhalt im Land ausspreche. Die Entlassung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Innenminister Seehofer wäre aber die Konsequenz aus diesen Worten. »Was wir nicht brauchen, ist ein Gesundheitsminister, der glaubt, seine Karriere im rechten Flügel der Union auf dem Rücken der Schwächsten aufbauen zu können«, sagte Hofreiter. Der Gesundheitsminister hatte mit der Aussage für Irritation gesorgt, Hartz IV bedeute nicht gleich Armut.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.