- Kultur
- Berliner Schaubühne
Abend für Gabelstapler
»Null« - Herbert Fritsch lässt an der Berliner Schaubühne das Ensemble zappeln und bringt Spielzeug zum Einsatz
Wer mit Nichts anfängt, der kommt manchmal weit, manchmal aber auch nicht. Wenn er etwa eine Null in seiner Multiplikationsrechnung hat, kann er lange rechnen - das Ergebnis ist vorbestimmt wie das Schicksal: immer wieder Null. Das ist nicht viel, das ist sogar viel zu wenig, wenn man bedenkt, was für ein kraftzehrendes Ärgernis so eine Null in mitmenschlicher Hinsicht bedeutet. Sie fesselt einen ans Nichts wie ein zorniger Gott. Das ist vor allem eins: sehr blöd.
Man kann das Dilemma auch in etwas mehr Denkerpathos kleiden, dann wirkt es gleich wie ein Betriebsunfall, der in höherer Mission immer zuerst einen selbst ereilt. Denn das Nichts ist nicht Nichts, also gleichbeutend mit dem Wert Null, es ist ein Abgrund, der dunkle Schatten der Metaphysik.
Jetzt sind wir endlich bei Herbert Fritsch und seinem Lebenselixier: der Apokalypse! Auf unser aller Lebensalltag bezogen, äußert sich dieses finale Weltgericht meist darin, dass wir über unsere eigenen Beine stolpern, noch bevor jemand das Urteil über uns sprechen konnte. So sind wir - vorläufig - noch frei zu allem Sinn und Unsinn, der uns in der verbleibenden Frist so einfällt.
An bühnentauglichem Unsinn ist bei Herbert Fritsch nie ein Mangel. Jedenfalls war das bislang immer so, von Dieter Roths »Murmel, Murmel« bis Konrad Bayers »Die (s)panische Fliege«. Da versiegt alle Kommunikation in einen Rinnsal von Lauten: Murmel, Murmel. Das war Dada pur: die Sprache als Quelle aller Missverständnisse, aus der die hier Anwesenden reichlich tranken. So der Senffabrikant Klinke, der zum Bewohner seinen eigenen Kleinbürgerhölle wird. Dieser Mensch lebt, um zu stolpern (in jeder Hinsicht von karrieretechnisch bis moralisch), weil er davor immer die größte Angst hat. In »Pfusch«, seiner letzten Volksbühneninszenierung, die - man glaubt es kaum - noch kein Jahr her ist, spielte Fritsch unser aller Verrenkungen, Teil des längst nicht mehr amüsanten, sondern grauenerregenden Spiels zu bleiben, letztmalig in höchster Präzision durch.
Diese Form von Blödelei in ambitioniertester Weise nennt man auch Pataphysik. Das ist die Metaphysik, wenn sie ins Taumeln gerät und im Rausch leichtsinnigerweise mehr wagt, als ihrem Ansehen förderlich ist. Da beginnt der Spaß, gefährlich zu werden. Max Ernst war einer der gewichtigen Gründungsväter jener Pataphysik, der Herbert Fritsch mit einem Eifer folgte, wie ein Spätberufener einer neu entdeckten Religion.
Aber das war Volksbühne, das war gestern. Zwar ist Herbert Fritsch jemand, der von sich sagt, er sei lebenslang ein fauler Hund gewesen, erst jetzt mit 67 Jahren habe ihn die Arbeitswut gepackt, er könne gar nicht genug inszenieren. Leuten, die von etwas gar nicht genug kriegen können, fehlt gewöhnlich etwas. Als Fritsch vor gut zehn Jahren an kleinen Provinzbühnen ausprobierte, ob er nach einem Leben als Volksbühnenschauspieler nicht auch selbst Regisseur sein könne, und zwar von einem grellbunten, schrillen Theater, das wie ein böses Märchen über uns herfällt, da begann sein Siegeszug.
Mehr als fünfzig Inszenierungen hat er inzwischen gewiss gestemmt. Sie alle hatten etwas von Krieg in der Puppenstube, der bitter ernst ausgefochten werden musste. Zuletzt mit dem Solo von Wolfram Koch, der ganz allein (mit einer ihn hautnah verfolgenden Souffleuse) in »Apokalypse« die Offenbarung des Johannes sprach, also spielte, also durchkämpfte.
Womit auch gesagt ist, dass Herbert Fritsch auf solch starke Schauspieler wie Wolfram Koch oder Sophie Rois bauen konnte, die jede Inszenierung mitprägten. Auch der Volksbühnenraum war seiner. Er passte wie für ihn gemacht zu den gigantomanischen Miniaturen aus dem lächerlich-tödlichen Leben der Riesenzwerge, die wir nun mal jederzeit bleiben.
Darum ging bei ihm auch der eiserne Vorhang in seinem Innern herunter, als vor einem Jahr der jetzige Volksbühnenchef Chris Dercon bei einem Treffen mit Fritsch auf dessen schwärmerischen Satz »Toller Raum hier!« missmutig antwortete: »Aber mit einer miesen Akustik«. Was wusste der denn schon von der Akustik der Volksbühne! Da war Fritsch klar, mit dem wird das hier nichts. Und er entschloss sich zu dem schwersten, wozu man sich entschließen kann, wenn man weiß, dass man an einen Ort auf eine Weise passt wie an keinen zweiten: dennoch wegzugehen.
Und nun arbeitet Fritsch, das Volksbühnenurgestein, an Thomas Ostermeiers Schaubühne mitten in Berlin-Charlottenburg. Ein nobles Exil. Warum auch nicht, ein interessiertes und dankbares Publikum findet er auch hier. Dieses ist also bereits die zweite Schaubühneninszenierung von Fritsch in dieser Spielzeit, von ihm selbst ausgedacht, geschrieben und inszeniert, samt der Musik von Live-Zampano Ingo Günther, der jede Melodie auf ein ächzendes Geräusch zurückzuführen weiß. Das ist als Performance zweifellos großartig - nicht nur angesichts der kläglichen Dauerladehemmung an Dercons Volksbühne, die bislang auch nicht mehr als zwei halbwegs ernst zu nehmende Inszenierungen auf der großen Bühne in dieser Spielzeit herausgebracht hat (es wird kulturpolitisch höchste Zeit, Dercon die Rote Karte zu zeigen!).
Bei »Null« ist es nun an der Schaubühne also fast so wie bei vielen anderen Fritsch-Abenden, aber eben nur fast. Atmosphärisch hat sich etwas verändert, und zwar auf ungute Weise. Etwas fehlt: der beharrliche Widerstand von Schauspielergrößen wie Koch und Rois gegen Fritschs Volten sowieso. Aber eben auch das Außenseiterische von Fritschs Anti-Theater scheint auf fatale Weise vom Betrieb absorbiert worden zu sein. Es wirkt plötzlich fatal arriviert, sodass er nun tatsächlich jeden Blödsinn machen könnte, und das Publikum jubelt vorauseilend, gar unterwürfig. Dieses nervige Johlen und Klatschen, das hysterische Lachen bei eher tragikkomischen Anlässen, all das hat etwas von Popkonzertstimmung. Ein Teil des Publikums gibt Zwischentönen von der ersten Minute an keine Chance, will nicht zusehen und zuhören, sondern sich selbst produzieren.
Die Chemie zwischen Bühne und Zuschauerraum also stimmt nicht. Keine leise Verwunderung mehr, kein zögerliches Befremden und dann doch Befreunden mit dem Grotesken. All die umständlichen Rituale finden nun nicht mehr statt. »Null« kommt daher wie ein makelloses, aber geheimnisloses Remake. Man kann nicht mit Schwung offene Türen einrennen, ohne sich ungeplant lächerlich zu machen. Der bittere Befund: Man ist ja gar nicht mehr der böse Bube, sondern der Liebling der Society. Keine tastende Kunstausübung findet hier statt, sondern das taffe Promoten eines Produkts. Andere mögen das anders sehen - für mich war dies ein trauriger Abend, der bewies, man kann Dinge, die an einem Ort auf so besondere Weise gewachsen sind, nicht einfach an einen anderen verpflanzen. Oder wenn doch, dann sieht es eben aus wie hier. Es funktioniert doch, jawohl, sogar viel zu gut!
Überraschend sind an diesem Abend nur zwei Dinge. Das erste: eine Pause (Fritsch-Inszenierungen mieden bislang solche Unterbrechungen) - und zwar schon nach dreißig Minuten. Rekordverdächtig! Da wird umgebaut, denn bislang hingen die Schauspieler wie Fische zappelnd an der Leine, alle nebeneinander. Mal stehen sie auch auf dem Boden, derart angeschirrt kann man sich sehr schräg nach rechts und links lehnen, das sieht hübsch aus, mehr nicht.
Nach der Pause, die sich länger hinzieht als der erste Teil dauert (ein erfrischender Hauch von Volksbühnenanarchie!), kommen lauter Ersatzspielspielzeuge zum Einsatz. Vor allem eine computergesteuerte Hand, nicht beschirmend, sondern ein auf ungute Weise zugreifender Apparat. Damit spielt man dann ausgiebig, das verbraucht die eine Hälfte der Zeit, die andere reißt der eigentliche Hauptdarsteller des Abends an sich, der zur zweiten Überraschung wird: ein Gabelstapler, der vermutlich nicht mehr als ein Ornament der Verlegenheit sein sollte, aber dazu ist so eine Maschine zu mächtig. Da kommt dann plötzlich eine Kraft im Spiel, der die Schaubühnenschauspieler in diesem müden Arrangement reinweg nichts entgegenzusetzen haben.
Nächste Vorstellungen: 27., 28., 30. März
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.