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  • Mary Shelleys »Frankenstein«

Gefallener Engel und bösartiger Teufel

200 Jahre »Frankenstein« - Mary Shelleys Roman ist zugleich ein Essay über die Verantwortung des Wissenschaftlers

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

In den Jahren 1842/43 reist Mary Shelley noch einmal nach Italien. Mit Anfang zwanzig hatte sie hier ihre glücklichste Zeit verbracht - und dann zwei Kinder sowie ihren Ehemann Percy Shelley verloren, der 1822 in der Bucht von La Spezia beim Segeln ertrank. 1840 war sie bereits nach Deutschland gereist, ihr Sohn hatte sie begleitet.

Das Tagebuch dieser Reise ist nun unter dem Titel »Streifzüge durch Deutschland« erstmalig auf Deutsch erschienen (Morio-Verlag, 200 S., geb., 19,95 €). Es zeigt eine Autorin, die - trotz Krankheit und Depressionen - den Sinn für das Ungewöhnliche im Alltäglichen nicht verloren hat. Sie reisen mit dem Dampfboot auf der Mosel. Von Trier geht es weiter nach Frankfurt am Main, nach Dresden, Weimar und Berlin. Zumeist fahren sie mit der Eisenbahn, die 1840 noch eine Attraktion ist. An der Grenze zwischen Sachsen und Preußen werden die Waggons ausgetauscht. Mary Shelley notiert: »Die preußischen Waggons haben bedeutend mehr Platz und sind bequemer. Die Geschwindigkeit, mit der wir fuhren, war außerordentlich hoch, sodass ich Reisende flehentlich aus dem Fenster rufen hörte, man möge das Tempo drosseln.«

Frappierend an diesem Bericht ist auch, dass er bereits eine touristische Perspektive bedient, die sich von der heutigen nicht sehr unterscheidet. In Weimar besuchen sie das Schloss sowie die Wohnhäuser von Goethe, Schiller und Wieland, die sich jedoch noch im Privatbesitz der Familien befinden. In Dresden stehen sie auf der Brühlschen Terrasse und besichtigen die Schätze des Grünen Gewölbes. Und in Berlin? Hier sind das Brandenburger Tor, die Universität, die Oper, Museen und die Gemäldegalerie ihre Ziele. Das ist ungefähr so, wie sich neuerdings der Berliner Senat den idealen kulturbeflissenen Hauptstadtbesucher vorstellt, nachdem er jahrelang um den kulturfernen Partygänger warb.

Ein Vierteljahrhundert zuvor, im Sommer 1816, weilte Mary Shelley am Genfer See in der Villa Diodati. Hier wurde »Frankenstein« geboren und seltsamerweise auch der Vampir, in einer ersten frühen Skizze von Lord Byron, der ebenfalls anwesend war. Woher kommt diese ungewöhnlich intensive literarische Produktivität? Der Sommer jenes Jahres ist wohl der kälteste und regnerischste des Jahrhunderts, was mit einem Vulkanausbruch zu tun hat, dessen Aschewolke die Sonne verdunkelt, so dass es selbst im Juli noch Nachtfröste gibt.

Die Gäste der Villa Diodati langweilen sich und beschließen, Schauergeschichten zu schreiben. Byron beginnt an einer kurzen Skizze zum Vampir zu arbeiten (der in dieser Skizze selbst noch gar nicht auftaucht), und sein Arzt Polidori wird später daraus den - allerdings kolportageartigen - »Vampyr« machen, einen smarten Gentleman namens Lord Ruthven, der den Frauen das Blut aussaugt, ein Ungeheuer der Erotomanie. Die erst achtzehnjährige Mary Wollstonecraft, die bald Percy Shelleys Frau werden sollte, schreibt einen Roman von zweihundertfünfzig Seiten mit dem Titel »Frankenstein oder Der neue Prometheus«. Im Vorwort erinnert sie an die Entstehung in der Villa Diodati: »Jedoch klarte das Wetter plötzlich auf, meine zwei Freunde verließen mich zu einer Tour durch die Alpen und verloren inmitten der herrlichen Bilder, die sie bieten, jede Erinnerung an ihre spukhaften Visionen.«

1818 erscheint »Frankenstein« - und wird bis heute immer wieder aufgelegt. Mehr noch, »Frankenstein« ist durch Comic und Film zum Inbegriff jener Monster geworden, die menschliche Hybris hervorbringt. Frankenstein ist natürlich nicht das aus Leichenteilen zusammengenähte Monster, sondern sein Schöpfer, das ist der abzüglich seines Forscherehrgeizes recht unscheinbare Viktor Frankenstein, der aus einer vornehmen Familie in Genf stammt. Zum Studium kommt er ausgerechnet nach Ingolstadt - und hier baut er dann heimlich in seinem Laboratorium, ausgestattet nach den neuesten chemischen und anatomischen Erkenntnissen seiner Zeit, jenes Monstrum, das er für den Prototyp eines neuen Menschen hält: stark (zweieinhalb Meter groß) und schön soll er sein, ein Übermensch aus lauter Leichenteilen, aber eben nicht wie die »Wiedergänger« aus dem Grabe kommend, kein »Untoter«, sondern im Laboratorium zusammengesetzt, eine Art Golem, dem er den Lebensfunken einhaucht. Ein Mensch? Eher einen riesenhaften Homunculus hat dieser Doktor Faust, der sehr bald immer mehr in die Rolle des Zauberlehrlings gerät, da geschaffen.

Als das Wesen die Augen aufschlägt, zeigt sich seine ganze abstoßende Hässlichkeit; der wässrig-leichenhafte Blick im grob zusammengenähten Gesicht wirkt grauenerregend. Vor Entsetzen über das, was er da in die Welt gebracht hat, lässt der bis eben so euphorische Jungwissenschaftler alles stehen und liegen - und läuft einfach weg, in der Hoffnung, dass sich das Problem des riesenhaften Kerls irgendwie von allein entledigt. Und so scheint es auch, denn als er tags darauf in sein Laboratorium zurückkehrt, ist das namenlose Produkt seiner Fantasien vom künstlichen Menschen verschwunden. Aber nicht für immer.

Doktor Frankenstein vereint in sich moderne Wissenschaft und Alchemie, da er in seiner Jugend vor allem Paracelsus und Agrippa von Nettesheim las und sich in ihrer magischer Naturphilosophie auskannte. Nun erweist er sich als jemand, dem das Gewissen schlägt. Aber wie auch dem »Vater« der Atombombe, Robert Oppenheimer, erst, als die Unglücke, für die er sich verantwortlich weiß, bereits geschehen sind.

Seltsamerweise hält man heute zumeist nicht den Schöpfer jenes kunstmenschlichen Monstrums für Frankenstein, sondern dieses selbst. Frisst das Geschöpf also gewissermaßen seinen Schöpfer? Shelleys Roman ist auch ein Essay über die Verantwortung des Wissenschaftlers. Ein völlig neues Thema für das beginnende 19. Jahrhundert. Es hat mit den sich eröffnenden neuen Möglichkeiten von Naturwissenschaft und Technik zu tun. So experimentierte bereits Ende des 18. Jahrhunderts der italienische Arzt Luigi Galvani mit Elektrizität und stellte dabei fest, dass abgetrennte Froschschenkel, die man unter Strom setzt, zu zucken beginnen, so als ob sie leben würden. Das war einerseits ganz empirische Forschung, andererseits befeuerten solche Entdeckungen einen gewissen Okkultismus, die Suche nach einem »Stoff des Lebens«.

Mary Shelley wechselt sehr bewusst des Öfteren die Perspektive. Das Monstrum ist für sie erst einmal ein unbeschriebenes Blatt, im Sinne Rousseaus ein »edler Wilder«, den es in Intellekt und Gefühl zu bilden gilt. Aber durch Frankensteins Weglaufen und Verdrängen des Getanen ist dieses Riesenretortenbaby, auf dessen Anblick alle mit Angst und Schrecken reagieren, völlig auf sich allein gestellt. Es lernt sprechen, indem es andere belauscht, lesen, indem es Bücher entziffert, die es im Wald findet. Es ist allein - und alle lehnen es auf heftigste Weise ab. Man verjagt es, wo es zaghaft Anbindung an andere Menschen sucht.

Und so kehren sich die anfangs noch positiven Gefühle des bis dahin erfahrungslosen Geschöpfs um, sein Versuch, Akzeptanz zu finden - und es beginnt sich bei ihm eine Bösartigkeit zu entwickeln, die schließlich mörderische Ausmaße annimmt. Es gilt der Welt zu vergelten, dass sie jemanden wie ihn erst geschaffen und dann verstoßen hat! Klar ist, Mary Shelley will, was noch heute jeder gutwillige Sozialarbeiter versucht: auf lieblose Zeiten des Heranwachsens in einer Biografie hinweisen, die das Monstrum erst geschaffen haben, sie will »das Böse« entdämonisieren und als ein Produkt der Gesellschaft kenntlich machen. Sie wirbt um Verständnis. Ein erstaunlich weit ausgreifender Zugang zum Thema, wenn auch nicht gänzlich frei von Sentimentalität.

Bald schon beginnt sich das Monstrum an Frankenstein für seine einsame Existenz zu rächen, tötet seinen jüngeren Bruder Wilhelm im Wald bei Genf (wie er so zielgerichtet von Ingolstadt nach Genf kam, bleibt allerdings Mary Shelleys Geheimnis). Weil Frankenstein sich seinem Ansinnen verweigert, ihm eine »Gefährtin« zu schaffen, die so sei wie er, ermordet es auch seinen Freund und dessen Braut - alle, die er liebt, sollen sterben.

Frankenstein jagt nun das Monster, das er schuf: »Ich sah das Wesen, das ich inmitten der Menschheit ausgesetzt und mit dem Willen und der Fähigkeit ausgestattet hatte, grauenhafte Dinge wie die gerade begangene Tat zu bewirken, fast in einem Licht, als wäre ich mein eigener Vampir, mein eigener Geist, dem Grabe losgelassen und nunmehr alles zu vernichten gezwungen, was mir lieb und teuer war.«

Das Böse, der in seinem Handeln schuldig Gewordene also, weiß offenbar etwas, was das Gute in seiner Unschuld nicht erfahren hat. Und dies unaufhebbar Zweideutige teilt uns Mary Shelley ganz am Ende von »Frankenstein« mit, ein wahrhaft verflixter Schluss, der jede Selbstgerechtigkeit hinter sich lässt, zumal aus dem Munde eines namenlosen Monsters: »Doch es ist nun einmal so: Der gefallene Engel wird zu einem bösartigen Teufel.«

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